Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
Werkzeuge.
„Die drei großen Steine haben meine Vorhänger freigelegt“, erklärte der Archäologe, der vor Erregung ganz zittrig geworden war. „Ich habe mich auf diese Stelle hier konzentriert und bin einfach weiter in die Tiefe gegangen. Vielleicht fällt euch auf, dass … nein, Moment, das ist nicht die richtige Reihenfolge.“ Er rieb sich das Kinn, drehte sich einmal um sich selbst und wirkte für einen Augenblick unschlüssig. Dann stellte er sich vor den großen Stein, als wolle er ihn abschirmen. „Passt auf“, begann er, „wenn ihr die beiden Hübschen da drüben eine Weile anseht, werdet ihr vielleicht merken, dass sie eine Frau und einen Mann darstellen.“
Salvatore und Giulia wandten sich um und betrachteten die beiden kleineren Steine, wie Stefane es von ihnen erwartete. Die Felsen glänzten feucht, was sie beinahe speckig wirken ließ. Da sie bis vor kurzem im Erdreich verborgen gewesen waren, gab es kein Moos, keine Flechten. Mit viel Fantasie konnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass der einer von beiden etwas kantiger, breitschultriger, männlicher gearbeitet war, während der andere leichte Rundungen aufwies, Rundungen an den typischen Stellen, im Brustbereich und an der Hüfte. Die Ausprägung dieser Formen war minimal, und Salvatore hätte keinen Eid darauf geschworen, dass die Deutung seines Freundes ins Schwarze traf. Zumal die Felsen keine Arme, Beine oder Köpfe aufwiesen. Schon die Behauptung, es handle sich um Menschen, war mit Vorsicht zu genießen.
„Na, was sagt ihr?“, wollte Stefane wissen. „Ich bin neugierig auf euer Urteil.“
„Ein Mann und eine Frau“, stellte Giulia fest. Aus ihr sprach tiefe Überzeugung.
„Ja, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht“, zögerte Salvatore. Hatte Giulia ihm die weibliche Intuition voraus, oder plapperte sie einfach etwas nach? „Was meint Marcel dazu?“
„Marcel?“ Der lange Junge machte eine wegwerfende Bewegung. „Er kommt selten hier runter, wertet lieber oben die Daten aus. Vergiss Marcel, und vertraue lieber auf dein Gefühl. Salvatore, könntest du dir vorstellen, dass wir es mit Mari und Maju zu tun haben?“
„Wer sind Mari und Maju?“, erkundigte sich Giulia.
Salvatore holte tief Luft. „So nannte man die beiden Hauptgötter in der baskischen Mythologie. Mari ist weiblich und steht an der Spitze des Pantheons. Sie ist die Göttin des Donners und des Windes und gleichzeitig die Göttin der Erde. Ihr Gatte ist Maju. Er ist ebenfalls ein Donnergott.“
Stefane nickte aufgeregt. „Hut ab, du hast dein Handwerk gelernt. Und jetzt erzähl was über Sugaar! Das ist die Stelle, die mich am meisten interessiert.“
„Sugaar?“
„Sag bloß, den kennst du nicht?“
„Kennst du den nicht?“ Giulia wirkte unzufrieden mit ihm. Warum kannte er Sugaar nicht? Warum wusste er nicht alles ? Wofür war er wissenschaftlicher Assistent? Musste man nicht eine Koryphäe sein, um einen Job an der Uni zu bekommen?
Salvatore seufzte. „Sugaar ist dieser Schlangengeist, nicht wahr? Lebt unter der Erde, sagt man.“
„Ja, aber da gibt es noch ein wichtiges Detail.“
„Du meinst, dass er manchmal mit Maju gleichgesetzt wird und manchmal eine eigenständige Gestalt zu sein scheint?“
„Was heißt das?“, mischte sich Giulia ein.
„Mythologien sind in den seltensten Fällen exakte Konstrukte, in denen jedes Teilchen einen festen Platz hat“, dozierte Salvatore etwas gelangweilt. Die ganze Zeit über beschäftigten ihn seine schmutzigen Schuhe mehr als die unförmigen Steine, in deren Mitte sie sich aufhielten. Er sprach gerne über sein Fachgebiet, aber musste es denn mitten in einer archäologischen Ausgrabungsstätte sein, unter einem drohenden Himmel, der einen Schauer nach dem anderen über das Land jagte? Genau in diesem Moment fielen wieder dicke Tropfen, und es gab nirgendwo einen Unterstand. Stefane hatte den Ort nicht einmal mit einer Plane überdacht.
Salvatore wischte sich den Regen von der Stirn. „Meistens treffen unterschiedliche Glaubensvarianten zusammen, lokale Kulte werden zu einem späteren Zeitpunkt gewaltsam in einen Gesamtzusammenhang gebracht oder beeinflussen sich gegenseitig. Bei den alten Ägyptern lässt sich das schön aufzeigen – der Gott Thot zum Beispiel tauchte zunächst in verschiedenen mittelägyptischen Mythen auf, in ganz unterschiedlichen Funktionen, manchmal als Totengott, dann wieder als Weltenschöpfer, als der Vogel, der das Ei legte, aus dem die Welt entstand.
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