Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
aus ihrem starren Flussbett befreit worden war. Einzig die Türme des nahe gelegenen Heizkraftwerkes kündeten davon, dass man sich noch in der Stadt aufhielt und nicht irgendwo in der Pampa zwischen Lenggries und Bad Tölz verlor. Merkwürdig, im letzten Sommer hatten wir noch an der Strandbar Mitte gelegen. Der kleine Flussabschnitt war liebevoll mit Pflanzen und Liegestühlen geschmückt worden. Und wenn man nicht gerade die trübe Spree im Blick hatte, war tatsächlich so etwas wie Strandfeeling aufgekommen.
München tut sich mit Stadtstränden schwer. Es gibt ja genug echte. So wie hier. Oskar hatte sich ein paar anderen Kindern angeschlossen, die am Flussufer ein Wehr bauen wollten. Eifrig schleppten sie Steine und Äste herbei. Meine vier Tage in den Bergen waren auch für ihn ein Abenteuer gewesen. Die Übernachtung mit den drei Söhnen von Max im Baumhaus hatte ihn selbstbewusster werden lassen. An dem Abend hatten sie auch ein Lagerfeuer gemacht und Würste darin gegrillt. Komisch, manchmal reicht Kindern ein einziges Wochenende, und sie sind gewachsen, bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Ob ich diese Gabe auch noch hatte?
Während ich mal wieder vor mich hin grübelte, stänkerten Thomas und Francesca miteinander. Früher oder später – meist früher – geschah das immer, wenn die beiden aufeinandertrafen. Minus plus minus ergibt nun einmal plus. Francesca plus Thomas ergibt Streit. Diesmal war es Thomas gelungen, Francesca in einen Disput über die revolutionären Ambitionen des italienischen Volkes zu verwickeln. Angesichts der desolaten Situation des Landes müsse da ja bald mal was passieren. Keine Ahnung, warum, aber das Thema war eines von Thomas’ Steckenpferden. Ich hatte von Leuten gehört, die abgehen, wenn sie Füße massieren, an getragener Wäsche schnüffeln oder mit ihren Schuhen schlafen. Thomas aber hatte einen Revolutionsfetisch. Widerstand gegen die Obrigkeit! Das war sein Ding. Gern auch mit Waffengewalt. Nächtelang hatte ich mir seine Ausführungen über die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen durch Revolte anhören dürfen.
»Und glaub mir, bald ist es auch in Deutschland wieder so weit«, prophezeite er nach seinen Monologen gern. Auch heute trug er stolz sein Che-Guevara-Shirt. Es war zwanzig Jahre alt und mittlerweile so dünn, dass ich bei richtigem Sonnenstand seine Brustbehaarung durch den Stoff sehen konnte. Ich glaube, insgeheim hatte er gehofft, hier auf der Straße deswegen angepöbelt zu werden. Revolution. Aber an einem Sommertag an der Isar scheint nichts weiter entfernt als der Gedanke an eine Revolution. Dabei waren die Bayern, was Revolutionen anging, gar nicht mal so zimperlich. Max hatte in einer Mittagspause mal wieder Aufklärung an mir betrieben und stolz verkündet, dass die Bayern 1918 die Ersten gewesen waren, die ihren König abgesetzt hatten. Und eine Räterepublik haben sie damals auch gleich ausgerufen.
»Wenn’s brennt, simma da. Weil wenn a Sach in Ordnung gbracht werden muas, dann muas sie in Ordnung gbracht wern«, hatte er mit wichtiger Miene verkündet. Bayerische Logik, na klar. »Damit mir hinterher wieder a Ruh ham.« So machte das Ganze schon etwas mehr Sinn. Wieder Ruhe haben. Kein Wunder, dass die Münchner Räterepublik gerade mal vier Wochen gehalten hatte.
Die letzte Revolution, die die Bayern veranstaltet hatten, war die sogenannte Biergarten-Revolution. 1995 war das. Es ging dabei um die Schließungszeiten der Biergärten. Die sollte vorverlegt werden. Von 23 auf 22 Uhr. Vier Jahre lang dauerte der Rechtsstreit um die eilig erlassene Biergartenverordnung des Freistaats, in der das Recht auf Gemütlichkeit gesetzlich festgeschrieben werden sollte. Schließlich musste das Bundesverwaltungsgericht über die Sache befinden. Und das sitzt bekanntlich in Berlin. Für einen Bayern sprengt das natürlich die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit.
»Des muas man sich amoi vorstellen! Da entscheiden so a paar Berliner über die Gültigkeit von bayerischen Gesetzen! Wo kommen mir denn da hie, wenn des Schule macht!«, hatte sich Max echauffiert. Dass die Klage gegen die Verordnung von Anwohnern eines Biergarten eingereicht und durch die Instanzen gepeitscht worden war, dass der »Feind« sozusagen gar nicht in Berlin saß, sondern aus den eigenen Reihen kam und die Kläger nach 22 Uhr wahrscheinlich einfach »a Ruh« ersehnten, das wollte Max lieber nicht diskutieren. Schließlich ging es – wie immer bei ihm – ums
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