Schloß der verlorenen Seelen
die Treppe zum dritten Stock. Camilla wußte, daß die Räume über ihnen seit vielen Jahrzehnten nicht mehr bewohnt wurden. Früher hatten dort oben die Kinder-und Schulzimmer gelegen. Zudem war auch ein Teil des Personals im dritten Stock untergebracht gewesen. Jetzt stand der Dienerschaft ein Seitenflügel des Schlosses zur Verfügung.
Laura stieg, gefolgt von ihrer Schwester, die Treppe hinauf. Oben angelangt zögerte sie nicht einen Augenblick, sondern wandte sich nach links in Richtung der ehemaligen Kinderzimmer. Bis auf das Mondlicht, das schwach durch ein hohes Fenster fiel, herrschte im Gang fast völlige Dunkelheit. Doch es das schien dem kleinen Mädchen nichts auszumachen. Es stieß sich nicht ein einziges Mal an den Truhen, die entlang der Wände standen.
Camilla beobachtete, wie ihre Schwester vor einer Tür stehenblieb und klopfte. Gleich darauf sprang die Tür auf, ohne daß Laura auch nur Klinke berührt hätte. Das Kind betrat das dahinterliegende Zimmer und sagte laut und deutlich: “Hallo, Cathy, da bin ich wieder.”
Camilla lief es eiskalt über den Rücken. Auf Zehenspitzen schlich sie sich näher. Sie atmete tief durch und schob die Tür, die sich hinter Laura wieder geschlossen hatte, einen Spalt auf.
Auch hier gab es als einzige Lichtquelle nur den Mond. Er schien durch drei schmale Fenster, deren Vorhänge seitlich gerafft waren. Laura saß auf dem Bett. Sie schien über etwas zu lachen. Camilla fühlte, daß ihre Schwester nicht alleine in diesem Zimmer war, aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte außer Laura niemanden sehen. Nur ein feiner, weißlicher Schleier schien auf der anderen Seite des Bettes in der Luft zu hängen.
“Ich bin so froh, daß wir Freundinnen sind, Cathy”, sagte Laura. Wieder lachte sie. “Niemand will mir glauben, daß es dich gibt. Es…”
“Laura?”
Das kleine Mädchen zuckte zusammen. Langsam wandte es den Kopf. “Was tust du denn hier, Camilla?” fragte es vorwurfsvoll. “Ich dachte, du schläfst.”
Camilla setzte sich zu ihrer Schwester aufs Bett. “Dasselbe dachte ich von dir”, erwiderte sie und strich sanft über Lauras Gesicht. “Du bist ja ganz kalt”, meinte sie. “Kein Wunder.” Sie stand wieder auf, holte eine Decke, die auf einem weißen Schaukelstuhl lag, und legte sie ihrer Schwester um die Schultern.
Laura hustete. Camilla hatte eine Menge Staub aufgewirbelt.
Erschrocken griff Camilla erneut zur Decke, trug sie zum Fenster, öffnete es und schüttelte sie aus. Dann kehrte sie zum Bett zurück und legte sie Laura erneut um die Schultern. “Was tust du hier?” fragte sie.
“Ich habe mich mit Cathy unterhalten”, antwortete die Siebenjährige. Anklagend fügte sie hinzu: “Aber jetzt ist Cathy fort. Es ist deine schuld.”
“Laura, du weißt doch, daß es diese Cathy nicht gibt.”
“Natürlich gibt es Cathy. Dies ist Cathys Zimmer”, pro-testierte das kleine Mädchen. “Ich kann nichts dafür, daß du Cathy nicht siehst, daß sie nicht zu dir spricht.”
Camilla erhob sich erneut. Sie schaute sich um. Allzu viel konnte sie nicht sehen, dazu reichte das Mondlicht nicht aus. Also ging sie zur Tür, um das Licht einzuschalten.
Laura lachte auf. “Es gibt kein elektrisches Licht, Camilla”, sagte sie. “Damals kannte man so etwas noch nicht, jedenfalls nicht hier im Norden”, fügte sie belehrend hinzu. Sie rutschte vom Bett und ging zu der Petroleumlampe, die auf dem Schreibtisch stand. Mit schlafwandlerischer Sicherheit nahm sie ein längliches Päckchen Streichhölzer aus der obersten Schublade. “Es ist noch immer Petroleum in der Lampe. Seit Cathy gestorben ist, hat man hier nichts verändert.” Obwohl sie nie zuvor eine Petroleumlampe angezündet hatte, gelang es ihr sofort.
“Dann weißt du also, daß Cathy nicht mehr lebt”, bemerkte Camilla betroffen. Das Licht ließ das Zimmer in einem warmen Glanz erstrahlen. Die junge Frau entdeckte ein großes Puppenhaus, mehrere Puppen, Holzspielzeug, feines Puppengeschirr aus Porzellan und Bücher. Die Wände waren in einem verblaßten Rosa gestrichen, die Vorhänge wirkten verblichen.
“Ja, Cathy ist tot”, erwiderte Laura. Sie trat zu ihrer Schwester und legte die Arme um sie. Beinahe trotzig blickte sie zu ihr auf. “Aber sie ist trotzdem meine Freundin. Sie hat so lange auf mich gewartet. Wenn …” Sie ließ Camilla los und zog fröstelnd die Schultern zusammen. “Mir ist es kalt, schrecklich kalt.”
“Dann gehen wir wieder nach
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