Schloß der verlorenen Seelen
kommt. Vermutlich kann sie dann auch Cathy nicht mehr sehen, weil es soviel anderes gibt, was sie gefangennehmen wird.”
Camilla wünschte sich, sie hätte die Zuversicht ihrer Gastgeberin teilen können, aber sie schob jetzt ihre Sorgen beiseite und ging zu ihrer Suite hinauf, um ihre Handtasche zu holen. Roger Gordon wollte mit den Kindern einen Ausflug nach Penrith machen. Sie hatte sich angeboten mitzukommen, weil sie Laura nicht dem Lehrer anvertrauen wollte. Zwar sagte sie sich, daß ihre Abneigung gegen ihn unsinnig war, aber sie konnte nicht über ihren Schatten springen. Nach wie vor spürte sie, daß Mr. Gordon etwas vor ihnen verbarg.
Wider Erwarten wurde es auch für Camilla ein schöner Tag. Der Hauslehrer verstand es, den Kindern die englische Geschichte so nahezubringen, daß sie förmlich an seinen Lippen hingen.
Roger sprach davon, daß Penrith in seiner langen Geschichte mehr Kämpfe erlebt hatte als irgendeine andere Stadt in England. Hintereinander gingen sie durch die engen alten Gassen mit ihren uralten Häusern, die sich um kleine Höfe gruppierten, deren einziger Zugang meist nur ein niedriger, leicht zu verteidigender Bogengang war.
Sie besichtigten auch die roten Sandsteinruinen des mächtigen Penrith Kastells aus der Zeit Richard des Dritten. Schließlich besuchten sie noch den uralten Friedhof mit seinem über tausend Jahre alten Gedenkstein.
Im Laufe des langen Vormittags stellte Camilla wieder einmal fest, wie gut Mr. Gordon mit Kindern umgehen konnte. Er verstand es, sie zu faszinieren und auch, ihre Fantasie anzuregen. Sie stellten ihm unzählige Fragen. Selbst Laura, die eigentlich noch zu klein für geschichtliche Dinge war, wollte alles über die Menschen wissen, die hier früher gelebt hatten.
In einem romantisch gelegenen Gasthaus nahmen sie den Lunch ein und fuhren dann weiter zu den wilden Cumberland-Hügeln, dem Schauplatz erbitterter Schlachten.
Bei den Ruinen einer alten Festung tranken sie Limonade und aßen den Kuchen, den ihnen die Köchin eingepackt hatte. Danach nahmen die Zwillinge Laura und erkundeten mit ihr die nähere Umgebung. Das glückliche Lachen der Kinder hallte von den Hügeln wider.
Roger Gordon war mit Camilla alleine zurückgeblieben. Er nahm seinen Skizzenblock aus der Tasche und spitzte einen Bleistift. “Wie gefällt es Ihnen auf Danemore Castle?” fragte er beiläufig.
“Gut, danke, Mister Gorden.” Camilla warf einen Blick auf den Skizzenblock. Mit sicheren Beistiftstrichen skizzierte der Lehrer einen Teil der Ruinen. “Laura macht bemerkenswerte Fortschritte, was ihre Zeichnungen betrifft”, bemerkte sie.
“Sie ist auch sehr begabt.” Roger blickte auf. “Hat Ihnen Laura den Hund gezeigt, den sie gestern morgen gezeichnet hat?”
“Nein, bis jetzt noch nicht”, erwiderte die junge Frau. “Warum sind Sie Lehrer geworden?” wollte sie wissen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihm keine persönlichen Fragen zu stellen. “Sie hätten sicher als Maler Erfolg gehabt.”
“Mag sein, aber ich wollte mit Kindern arbeiten. Ich liebe Kinder.” Er ließ seinen Stift sinken. “Eine wunderschöne Landschaft. Man sollte nicht denken, daß gerade dieser Platz über Jahrhunderte hinweg Schauplatz der Grenzkriege zwischen den Engländern und den Schotten gewesen ist.”
“Ich glaube, es gibt kaum ein Fleckchen auf der Erde, das nicht Blut und Tränen gesehen hat”, meinte Camilla.
“Leider”, bestätigte Roger. Dann sprach er von der Schule, an der er unterrichtete.
Plötzlich fand ihn Camilla nett. Sie konnte nicht mehr verstehen, daß sie ihn nicht mochte. Minutenlang ließ sich die junge Frau von seiner sanften Stimme regelrecht einlullen, doch dann rief sie sich energisch zur Ordnung. Sie war kein Kind mehr, das man mit ein bißchen Freundlichkeit beeindrucken konnte. Roger Gordon machte ihr etwas vor. Er führte irgend etwas im Schilde.
“Laura ist ein bemerkenswertes Kind”, sagte er plötzlich und blickte erneut auf.
“Ja, das ist sie.” Camilla nickte. “Warum verbringen Sie Ihre Ferien damit, den Zwillingen Unterricht zu erteilen?” fragte sie.
“Könnte es nicht sein, daß ich das Geld brauche?”
“Das glaube ich Ihnen nicht.”
Die Kinder kehrten zurück. Sie setzten sich ganz in der Nähe der Erwachsenen auf einen Steinblock und sprachen lebhaft aufeinander ein.
Roger antwortete der jungen Frau nicht. Er schlug ein Blatt auf seinem Skizzenblock um und begann, die Kinder zu skizzieren. Schweigend
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