Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
wir das?«, fragte ich. Herbert nahm achselzuckend einen Schluck
Bier.
Kurt suchte nach Worten. Dann merkte er, dass jemand hinter ihm stand.
Es war Leander, der an seinem Rauschebart knibbelte. Über seinem heiteren Philosophenantlitz
lag ein Schatten. Und tatsächlich, als sich alle Köpfe nach ihm umgedreht hatten,
öffnete er den Mund und verkündete: »Sie ist gestürzt.«
Leanders Stimme klingt immer ein wenig alttestamentarisch, und so entstand
nach seinen Worten eine andächtige Stille. Bevor ich auch nur eine vage Idee hatte,
wen oder was er gemeint haben könnte, reckte sich der kleingewachsene Bierverächter
von vorhin und rief: »Maria? Maria ist gestürzt?«
Leander nickte.
»Wie denn? Und wo? Wie geht es ihr?«
»Mit dem Rad«, antwortete der Bärtige überraschend präzise. »Sie wollte
ausweichen. Diesen Menschen.« Er machte eine undefinierbare Handbewegung. »Leuten.«
»Fußgängern?«, fragte der Kleine.
Kopfschütteln.
»Radfahrern?«, fragte ich.
Kopfschütteln.
»Autos? Kindern? Einer Demonstration? Ausländern? Bullen? Den Typen
vom Gesundheitsamt?«, so hagelten die Vorschläge auf den armen Leander nieder, der
prompt ins Schwitzen geriet.
»Nein«, wehrte er sämtliche Einwürfe wie Tennisbälle ab. »Nein … sondern
solchen Leuten auf Dingern …«
»Leute auf Dingern«, nickte der schöne Herbert. »Das dachte ich mir
gleich.«
»Radfahrern«, wiederholte ich. Immer noch falsch. Leander stand vor
unserem Tisch, seine Äuglein flackerten, der Mund schnappte auf und zu, über dem
mächtigen Philosophenbauch wölbte sich der Strickpulli.
»Ich weiß nicht, wie die heißen«, keuchte er.
»Ist doch egal«, winkte Tischfußball-Kurt ungewohnt versöhnlich ab.
»Nein, das will ich jetzt wissen«, konterte Herbert, ebenso unerwartet
biestig. »Wer ist schuld daran, dass wir hier ohne Wirtin sitzen?«
Alle Augen richteten sich wieder auf Leander, der aussah, als wolle
er gleich in Tränen ausbrechen. Plötzlich jedoch hellte sich seine Miene auf. Er
lächelte sogar. Dann stellte er sich kerzengerade hin und schloss die Augen. Mit
beiden Händen setzte er sich etwas Unsichtbares auf den Kopf, anschließend hielt
er sie vor den Bauch. Seine Finger umschlossen einen imaginären Lenker. Dabei summte
er leise vor sich hin.
Verblüfft starrten wir ihn an. Ich weiß nicht,
wie es den anderen ging, aber mich erinnerte Leander an einen Braunbärenopa auf
Droge. Einen Meister Petz im Norwegerpulli, der ein Bärenschlaflied summte. Unverständliche
Sätze aus seinem Mund waren wir gewohnt, aber dass er nun auch in Rätseln gestikulierte,
war zu viel des Guten. Die halbe Kneipe verrenkte sich den Hals, um ja nichts zu
verpassen.
»Hallo?«, rief schließlich einer an unserem Tisch. »Was gibt das jetzt?«
Leander schlug die Augen auf. Als er unsere ratlosen Mienen sah, schloss
er sie wieder. Sein Oberkörper schwankte leicht hin und her, vor und zurück. Der
Lulatsch von Bedienung kam mit neuen Getränken angetrottet und machte große Augen.
»Scheint eine Scharade zu sein«, meinte Herbert. »Zusammengesetzter
Begriff oder einfacher?«
Vorsichtig kippte Leander seinen Oberkörper nach vorn. Sein Summen
wurde lauter.
»Stell dein Zeug ab und verzieh dich«, herrschte Tischfußball-Kurt
die Bedienung an.
»Klar, Chef«, nickte der Lange. »Soll ich dem Segwayfahrer auch was
bringen?«
»Ah«, machte Leander und schlug die Augen auf. Dann umarmte er den
Lulatsch und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Segway!« Mir ging ein Licht auf. »Das wolltest du uns sagen! Maria
ist Segwayfahrern ausgewichen? Und dabei gestürzt?«
Mit glücklichem Nicken nahm unser Philosoph endlich Platz. Alles atmete
auf. Das Rätsel war gelöst! Segwayfahrer, natürlich! Breitbeinig auf ihrem komischen
Wackelbrett stehend, uns Fußvolk um einen Kopf überragend. Gut, dass in diesem Moment
keiner von ihnen durch den Englischen Jäger rollte! Er wäre zerfleischt worden.
»Diese Horden verstopfen nur unsere Straßen«, rief Herbert kämpferisch.
»Und jetzt bringen sie auch noch unbescholtene Bürger ins Krankenhaus.«
»Das gibt Rache!«
Tischfußball-Kurt ballte die Faust und rief, wenn ihm so einer über
den Weg laufe, werde er ihn … nein, wenn ihm einer über den Weg fahre, werde er
ihn … aber gnadenlos, darauf könnten wir einen lassen. Alle anderen schlossen sich
an. Ich werde auch einen Schlachtruf beigesteuert haben. Jedenfalls ließen wir unsere
Gläser und Flaschen klingen, bis Leander
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