Schmeckts noch
Schneewittchen fallen sie in einer »Controlled Atmosphere« (CA) in eine Art Todesschlaf, der Einfluss auf die Stoffwechselprozesse im Apfel hat. Bei der sogenannten CA-Lagerung verringern die Importeure den Sauerstoffgehalt unter 5 Prozent und erhöhen gleichzeitig den Kohlendioxidgehalt. Äpfel werden unter dieser kontrollierten Atmosphäre bis zu sechs Monate gelagert, und selbst die Sensibelchen unter den Früchten können so wochenlang überleben, Erdbeeren bis zu 20 Tage.
Nach dem Aufwachen aus diesem künstlichen Koma schmeckt der Apfel leider ein bisschen tot, da den unreif gepflückten Früchten die wertvolle Zeit am Baum fehlt, die sie brauchen, um Stärke in Zucker umzuwandeln und Säuren abzubauen. Denn erst mit dem Abbau von Chlorophyll beginnt der volle Reifeprozess. Dann treten die gelben und roten Pigmente in Aktion, die die Früchte so schön weich und saftig werden lassen. Holt man das Obst zu früh vom Baum, wird dieser natürliche Vorgang unterbrochen.
Der ganze Früchtezauber ist für den Kunden auch hinsichtlich der Vitaminbilanz eine Fehlinvestition, denn trotz Todesschlaf und aller Vorsicht bleiben neben dem Aroma auch Vitamine auf der Strecke. Der Vitamingehalt von Früchten steigt mit dem Reifegrad, und die letzten Sonnenstunden vor der Ernte sind es, die der Frucht noch einen Extrakick geben und den Zuckeranteil auf mindestens 13 Prozent hochschrauben. Zu früh gepflückte Industrieäpfel, wie sie zuhauf in den Supermarktregalen zu finden sind, liegen weit darunter.
Dafür ist der Industrieapfel optisch einwandfrei, so dass selbst Schneewittchen wieder in die roten Apfelbäckchen beißen würde – und sie sind EU-genormt, das heißt, Durchmesser, Länge, Gewicht und Gleichmäßigkeit der Farbe sind festgelegt. Bei Äpfeln der Klasse 1 darf schon mal der Stiel fehlen, aber die Bruchstelle muss glatt und unbeschädigt sein. Schalenfehler werden in Quadratzentimetern gemessen, für die Farbe gibt es Listen mit Farb tabellen, die Größe wird nach dem Querdurchmesser bestimmt: Äpfel der Klasse Extra müssen mindestens einen Durchmesser von 60 Millimetern haben, für die Klasse 1 reichen 55 Millimeter. Runzeln und Schrumpeln sind verpönt. Bei der Extraklasse müssen drei Viertel der Gesamtfläche »sortentypisch« gefärbt sein.
Für nahezu ewige Frische sorgt ein Mittel namens »Smart-Fresh«, das dem Reifegas Ethylen nicht unähnlich ist und die Ethylenrezeptoren von Früchten und Pflanzen so beeinflusst, dass diese nicht mehr auf das Ethylen reagieren, das normalerweise den Reifungsprozess auslöst. SmartFresh verleiht den Äpfeln Frische, erhält die Festigkeit und Farbe, obwohl die Frucht in Obstjahren gemessen schon uralt ist. Der Verbraucher isst unter Umständen einen Apfel aus der letzten Saison und merkt es nicht. Die normale Lebenserwartung eines Apfels dauert von der Ernte im Herbst bis zum Ende des Jahres, dann fangen Äpfel an zu schrumpeln. Wir sind inzwischen jedoch so daran gewöhnt, dass es auch im Januar, Februar und März »frische« deutsche Äpfel gibt, und machen uns keine Gedanken darüber, wie das möglich ist.
Als Treffpunkt für Liebende nicht geeignet
Auch einheimische Äpfel sind Industrieäpfel. Der moderne Apfel wächst heute in den großen Obstanbaugebieten wie dem AltenLand vor den Toren Hamburgs nicht an Bäumen, sondern auf schwach wachsenden Unterlagen. Man nennt die Krüppelbäumchen, die von Gestellen wie mit Krücken gestützt werden, auch »Träger« oder »Produktionseinheiten«, und der Apfelbauer bezeichnet sich gern als »Erzeuger«. Seine Industriebäumchen sind plantagengeeignet und anspruchslos. Sie heißen wie Geheimagenten zum Beispiel »M9« und sind als Treffpunkt für Liebende völlig ungeeignet. Wer seine Freundin unter einem »M9« küssen will, muss ein Zwerg sein, denn der Baum ist kaum größer als ein Busch. Dafür ist die Ernte ganz ohne Leiter ein Kinderspiel.
Die Krüppelbäumchen tragen eine schwere Last: Wer 3000 »M9« auf einer Produktionseinheit von einem Hektar stehen hat, kann gut und gerne mit 40 000 Kilo Äpfeln rechnen. Ohne den Einsatz von Chemie ist das unmöglich, und auch für die Lebenserwartung des Baumes ist diese Hochleistungsproduktion nicht ohne Folgen: Während Apfelbäume früher das stattliche Alter von 100 Jahren erreichten, sind all die vielen »M9« schon nach 15 Jahren reif für die Säge.
Äpfel mit dem Geschmack von Zartbitterschokolade
Im 19. Jahrhundert gab es mehrere tausend
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