Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
nicht. Wäre Flynn nicht so übel gewesen, hätte ihn das womöglich nervös gemacht. Aber Raidin würde ihn heute nicht groß aus dem Konzept bringen, und der Mann schien das auch zu wissen.
»Der Vater ist seit sechs Monaten tot«, sagte Raidin.
Flynn hob den Kopf. Er wollte mehr wissen, hatte aber keine Lust, ihn zu fragen. Sierra würde das für ihn herausfinden. »Christina Shepard sagte, er sei krank, sprach aber über ihn, als ob er noch leben würde. Ihr Mann ebenfalls. Sie hatte Angst vor seiner Reaktion, falls sie ihren Bruder hätte gehen lassen.«
»Manche Familien sperren geistig Behinderte auf dem Dachboden ein oder ketten ihre Kinder monatelang an die Heizung, weil sie glauben, sie seien vom Teufel besessen. Krankhaft. Bösartig.«
»Ich weiß«, sagte Flynn. »Ich habe es selbst gesehen.«
»Er ist übrigens aus dem OP raus. Shepard. Sein Zustand ist kritisch, aber stabil. Er wird ein paar Tage lang nicht ansprechbar sein. Ich habe gehört, Sie wollten mit ihm reden.«
»Er wollte mit mir reden.«
»Worüber?«
»Ich weiß es nicht.«
»Glauben Sie, er hat Ihnen den Tipp mit dem Bruder gegeben?«
»Ja.«
»Vielleicht fühlt er sich schuldig wegen seiner Frau.«
»Vielleicht hat er ja Grund dazu. Haben Sie irgendetwas aus ihm herausbekommen?«
Die Frage war ziemlich direkt, aber das schien Raidin nichts auszumachen. »Nein. Seine Anwälte werden ihm raten zu schweigen, und wir können schwer jemanden unter Druck setzen, der eine Kugel im Herz hat.«
»Das leuchtet mir ein.«
»Etwas anderes. Erklären Sie mir doch bitte die Szene mit dem Jungen in der Notaufnahme.«
Das war schon heikler. Flynn versuchte, absichtlich vage zu bleiben. Er habe schon mal einen allergischen Schock gesehen und gedacht, der Junge würde sterben. Immerhin war er kurz vor dem Ersticken gewesen. Ohne ersichtlichen Grund jemandem helfen zu wollen, machte ihn verdächtig. Niemand würde ihm eine Medaille dafür verleihen. Die Mutter würde sich niemals bei ihm bedanken. Und die Ärzte würden ihm missbilligende Blicke zuwerfen. Raidin musterte ihn immer noch.
»Wie geht es dem Jungen?«, fragte Flynn.
»Gut. Er hatte nur einen schlimmen Asthmaanfall.«
Eine Weile standen sie einfach so da.
Bis Raidin anfing, mit seinem dünnen Zeigefinger wieder auf Flynns Brustbein herumzuklopfen. »Eine halbe Stunde Herzstillstand, das ist ganz schön lang.«
»Der Rekord soll viel höher liegen.«
»Wie hat sich das angefühlt?«
Flynn dachte nach. Er hatte weder Euphorie noch Verzweiflung empfunden. Weder die Anwesenheit Gottes noch etwas grauenhaft Böses. Seinen Bruder hatte er gesehen, aber den sah er ständig. Danny würde immer da sein. Er hatte eine endlose dunkle Straße gesehen, aber jede Straße kam einem unermesslich lang vor, wenn man feststeckte.
»Eigentlich so wie immer«, antwortete Flynn.
5
Später in der Stadt, während der Nachmittagsvorstellung von I Wake Up Screaming im Paradigm, war Zero die ganze Zeit am Reden.
Unter anderem stellte er fest, wie sexy Betty Grable war, was für eine Schande es sei, dass ein erstklassiger Schauspieler wie Laird Cregar allein aufgrund seines Übergewichts nicht erfolgreicher war, und wie traurig es sei, dass Carole Landis sich das Leben nahm, wo sie doch so schöne Brüste hatte. Ständig scharrte er an Flynns Arm und wollte Milk Duds. Flynn war allmählich genervt.
Dass der Hund so viel redete, war nicht das Problem. Immerhin war Flynn, was den Film betraf, im Gro ßen und Ganzen seiner Meinung. Aber er hatte ganz bestimmt nicht vor, den sprechenden Geist einer gestiefelten Bulldogge mit seinen Süßigkeiten zu füttern.
Man musste den Toten gegenüber gewisse Grenzen ziehen.
Es kam nicht von ungefähr, dass der Hund aufgetaucht war. Flynn war offen für solche Dinge. Sein halbes Leben lang war er seinem toten Bruder hinterhergejagt. Und auch seine Exfrau beschäftigte ihn immer wieder. Alte Fälle durchlebte er auf beängstigende Weise ein zweites Mal. Kinder, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, tauchten plötzlich in seinen Träumen auf. Er dachte an seinen Sohn Noel, den er nie zu sehen bekommen hatte. Er verliebte sich in Film-Noir-Schauspielerinnen, die seit fünfzig Jahren tot waren.
Zero hatte Recht, Betty Grable hatte immer noch das gewisse Etwas. Flynn versetzte sich auf die Leinwand und stieß Victor Mature zur Seite. Er wusste, wie der Film endete. Um Betty zu retten und das Rätsel zu lösen, brauchte er nicht halb so lange. Er konnte die
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