Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
können, oder jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem er es hätte sein müssen. »Aber wenn er sich dafür rächen wollte, dass ich seine Tochter umgebracht habe, warum hat er mich dann nicht einfach abgeknallt? Warum lässt er mir durch eine Nutte eine Nachricht zukommen und legt stattdessen sie um?«
»Hör zu, ich hab noch ein bisschen weiter in ihrer Familiengeschichte gegraben. Obwohl sie so stolz auf ihre Herkunft sind, ist die Bragg-Dynastie nicht unbedingt für ihre geistige und physische Gesundheit bekannt. Vieles davon ist nur Gerede, aber von der Art, die in Berichten
und Akten landet. Die Leute schreiben da irgendetwas rein, und über die Jahre hinweg wird das geglaubt. Braggs Sklavenbesitzer-Vorfahren trieben es angeblich mit den Arbeiterinnen in den Tabakfeldern und warfen die Mischlingsbabys dann in einen Brunnen.«
»Aha.«
»›Aha‹ trifft es ganz gut. Wer weiß, was am Ende in seinem Kopf vorging.«
»Wenn es das Ende war. Was hast du über Nuddin herausgefunden?«
»Nichts. Keinerlei Aufzeichnungen über ihn.«
»Wie kann das sein?«
»Du hast es doch hier in New York gesehen, mein Gott. Leute, die sich für ihre Kinder schämen und sie im Keller einschließen. Crackbabys, die in irgendwelchen Wohnungen in der Bronx zur Welt kommen.«
»Aber die meisten von ihnen hatten immerhin Geburtsurkunden und Unterlagen.«
»Die meisten, aber nicht alle. Da unten in den Sümpfen läuft das anders. Ich sag nur: Hebammen.«
»Mag sein.«
Das war eine Spur. Ein hohes Tier bei der Armee war etwas anderes als eine ausgebrannte Prostituierte, die außerhalb der Gesellschaft in Armut lebte. Aber wer konnte wissen, was Bragg so durch den Kopf ging, auch als er noch keinen Tumor hatte. Flynn hoffte, dass Shepard nicht im Schlaf gestorben war. Er musste mit ihm sprechen.
Flynn lehnte gegen die Telefonzelle und beobachtete die Passanten, die durch Greenwich Village schlenderten.
Ein paar Meter weiter sah er einen Stand mit Ray’s Pizza. Es roch nach Mozzarella, und sein Magen knurrte.
Er konnte Sierra in ihrem Stuhl mit den Schultern zucken hören. »Ich schätze, ein Oberst kann gewisse Dokumente verschwinden lassen, wenn er will. Aus Scham. Angst vor Stigmatisierung vielleicht. Aber warum tun sie sich das an und stecken ihn in einen Käfig? Warum geben sie ihn nicht einfach weg? Wenn Bragg so viel Einfluss hatte und seine Spuren verwischen konnte, hätte er Nuddin doch in eine Einrichtung geben können, ohne dass jemand davon Wind bekommen hätte. Nuddin hätte geholfen werden können.«
»Oder Bragg hätte ihn einfach töten können«, meinte Flynn.
»Oder das. Ist Shepard noch nicht wach?«
»Nein, und es gab Komplikationen. Sein Blutdruck ist ziemlich nach unten gegangen. Sie nennen es ›nicht ansprechbar‹.«
»Klingt besser, als zu sagen, dass er im Koma liegt.«
»Sie behaupten, er würde bald aufwachen, sie wissen nur nicht wann.«
»Apropos ›nicht ansprechbar‹. Du warst lange nicht im Büro.«
»Super Überleitung«, lobte Flynn.
»Lenk nicht ab. Es warten ein paar Fälle auf dich.«
»Gib sie jemand anderem. Ich muss eine Weile von der Bildfläche verschwinden, bis ich weiß, was hier los ist. Ich will rausfinden, ob Angela Soto wegen mir sterben musste. Und ob es tatsächlich mit Shepard zu tun hat. Ich muss wissen, inwieweit ich darin verwickelt bin. Ob es wirklich meine Schuld ist.«
»Tust du das für uns? Damit uns niemand kleine Zettelchen zusteckt, die wir dir geben sollen?«
»Na ja, willst du vielleicht, dass man dir eine Kugel in den Kopf jagt?«
Sierra brach in ihr Gelächter aus, vor dem es ihn immer graute. »Das wäre genaugenommen meine dritte«, lachte sie, was ihn wieder auf den Boden holte. Bei Sierra kam man mit solchen Sprüchen nicht weiter.
Er ging nicht darauf ein und fragte: »Wie kommst du mit Kelly und Nuddin zurecht?«
»Kelly ging es gut, bis wir ihr von ihrer Mutter erzählt haben. Es war ein enormer Schock für sie. Dass ihr Vater eine Kugel abbekommen hat, hat sie danach kaum noch erschüttert. Ich habe ihr nicht erzählt, dass er im Koma liegt, aber sie hat auch nicht nach ihm gefragt. Als ich den Namen Bragg erwähnte, zeigte sie keinerlei Reaktion. Entweder ist er einfach ›Großpapa‹ für sie oder sie kennt ihn gar nicht oder sie erinnert sich nicht an ihn. Sie ist verschlossen und ein bisschen trotzig, aber sie hat weder einen Zusammenbruch gehabt noch geweint.«
»Wenn es kommt, kommt es hart.«
»Da hast du Recht. Hoffentlich
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