Schmidt Liest Proust
Folgen und das Bonus-Material anzusehen. (Enthu-siasm heißt es also, nicht enthusi-asm. Enthu-siasm, enthu-siasm …) Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, obwohl ich es als Englischübung oder einfach als Recherche verbuchen könnte. Außerdem hat es ja Spaß gemacht.
Eine neue Sitcom zu entdecken ist ein eigenartiger Moment, dessen historische Bedeutung einem erst später bewußt wird, wie bei einer ersten Begegnung mit einem Menschen. Man erinnert sich noch genau, wie das war, und daß man womöglich gar kein Interesse am anderen hatte und dann noch ein halbes Jahr verstrichen ist, bis man plötzlich Feuer fing. Ich bin der Serie jedenfalls schon verfallen und laufe seitdem so staksig durch die Wohnung wie Larry David. Leider versteht niemand die Anspielung, weil »Curb Your Enthusiasm« (enthu-siasm …, enthu-siasm …) in Deutschland nicht gezeigt wird, diesem Neandertal der Television.
Nachher schaltete mein Kopf beim Proust-Lesen automatisch auf Sitcom, so daß ich ständig Motive sah, die vom Autor nicht genutzt wurden. Die »Recherche« wäre mit Sicherheit für zehn Staffeln gut, für eine Million Dollar würde ich das Skript schreiben. Allerdings brummt mir erstmal der Kopf vom Fernsehen, und ich kann für heute nichts mehr machen, weil mir alles minderwertig vorkommt. Larry David verwirklicht ja eigentlich, wovon ich immer geträumt habe: Er verwandelt sein Leben in eine Sitcom und wird reich mit seinen Ticks, seinem radikalen Gerechtigkeitssinn und seiner sozialen Unflexibilität. Bei »Curb«, wie die Macher es anscheinend nennen, werden alle Szenen improvisiert, es gibt nur eine von Larry David genau ausgearbeitete »Outline«. Die Dialoge sind also nicht vorformuliert, und man fragt sich, warum das nicht bei mehr Filmen so ist.
Es war wie in alten Zeiten, man sieht ausländisches Fernsehen, lernt Wörter und vergißt seine Sorgen. Ich verstehe nicht, wie die Amerikaner es schaffen, wie selbstverständlich Vokabeln zu benutzen, die sie vielleicht einmal alle fünf Jahre brauchen und die mir noch nie begegnet sind. Heute habe ich gelernt: hell-bent, hitman, harbor a grudge, tampering, huff, pew, eulogy, to pry into, henchman, unbeknownst . Dazu kommt, daß im Englischen manche Wörter eine absurde Bandbreite an Bedeutungen haben, bei »pit« stand noch nicht mal »Olivenkern«, sondern nur: »Grube«, »Pockennarbe«, »Tierfalle«, »Box«, »Maklerstand« – wo ist da der Zusammenhang?
Das Konzept der Show ist, daß der Autor sich selbst spielt. Wahrscheinlich spielt er gar nicht, er zeigt sich nur so kompromißlos, wie man es im Leben nicht sein kann. Das ist die Verwirklichung der von Kafka am Ende von »Amerika« beschriebenen Utopie eines Theaters, in dem jeder sich selbst spielt. Ich hatte sofort den dringenden Wunsch, so etwas mit der »Chaussee der Enthusiasten« ein paar Wochen lang auszuprobieren, wobei solche einleuchtenden Ideen ja nicht sehr widerstandsfähig sind.
Die Gefangene, S. 236–257
» Aber andererseits hatte ich auch wie am Nachmittag das Gefühl, daß ich eine Frau bei mir zu Hause vorfinden und bei der Heimkehr nicht die beschwichtigende Kräftigung durch Einsamkeit würde erfahren können. « Ein echter Proust-Satz, aber würde ich ihn vorlesen, würden die Zuhörer lachen.
Mitten ins Gespräch zwischen Marcel, Charlus und Brichot zwängt sich eine klein gedruckte, fast dreiseitige Fußnote, die nicht viel zur Handlung beiträgt, die man aber als zwanghafter Mensch (fluchend) Wort für Wort lesen muß. Es soll wohl eine Lücke zwischen zwei Sätzen geschlossen werden, die wir gar nicht bemerkt hätten, also wird eigentlich auch keine Lücke geschlossen, sondern eher eine Falltür geöffnet, unter der sich ein Unterboden mit einer Welt von Details und noch genaueren Ausführungen befindet, die der Autor sonst anscheinend ausspart. Man schaudert bei dem Gedanken, was er in der »Recherche« alles nicht gesagt haben könnte und wie lang das Buch dann wäre, wo er doch kaum den Eindruck vermittelt, viel weggelassen zu haben.
Unklares Inventar:
– Fotografien von »Otto«, Frisuren von »Lenthéric«, Kakoschnik. Peridot, Markasit, Labrador (Steine). Ataxie.
133 . Di, 5.12., Berlin
So! Nach und nach paßt sich der Körper meiner seelischen Misere an. Beim Fußball einen Moment nicht aufgepaßt und umgeknickt, jetzt ist mein linker Knöchel dick angeschwollen, und ich humpele durch die Wohnung wie Jack Nicholson in »Shining«. Und das, wo in den
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