Schmidt Liest Proust
Die ganze Fahrt hält sie ihn in der Hand. »Ich hab Puffschmalz gegessen« hat sie der bewunderten Siebenjährigen erzählt, zu ihr aufschauend, um Aufmerksamkeit buhlend und fast stotternd vor Aufregung, aber für die Große war es gar nicht interessant. Kommt so zum ersten Mal echtes Leid in so ein junges Leben?
Sein größter Triumph im Osten sei gewesen, daß in seinem Ausweis »groß« stand.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 320–340
Der Slapstick sozialer Gesten: Die Großmutter und Madame de Villeparisis » platzten eines Morgens in der Tür unmittelbar aufeinander und sahen sich gezwungen, miteinander zu reden, nicht ohne zuvor eine Mimik des Erstaunens, Zögerns, Zurückweichens, Zweifelns, der Höflichkeitsbezeigungen und Freudenbeteuerungen durchlaufen zu haben wie in einem Stück von Molière, wo wir annehmen sollen, daß zwei der agierenden Personen, die seit langem jede auf ihrer Seite nur ein paar Schritte voneinander entfernt Monologe halten, sich noch nicht gesehen haben, dann aber plötzlich einander bemerken, ihren Augen nicht trauen wollen, abgerissene Sätze stammeln und schließlich, wenn das Herz der Zwiesprache nachgekommen ist, zu gleicher Zeit reden und einander in die Arme stürzen «. Das amüsante Hin und Her, das wir in der Schule beobachteten, wenn ein Lehrer in die Klasse kam, um unserem Lehrer einen geringen Betrag zurückzuzahlen, unser Lehrer sich aber weigerte, das Geld anzunehmen, während der Schuldner in seinem Bemühen nicht nachließ.
Jener unschöne Zeitpunkt bei Tisch, » da die Messer nachlässig neben den zerknüllten Servietten herumliegen« , muß überbrückt werden. » Um in mir, damit ich Balbec auch weiterhin lieben könnte, die Vorstellung wachzuhalten, ich befände mich an einem der äußersten Punkte der Erde, bemühte ich mich, in die Ferne zu blicken, nichts als das Meer zu sehen, darauf die von Baudelaire beschriebenen Stimmungen zu erkennen und meine Blicke auf unserm Tisch nur an jenen Tagen ruhen zu lassen, wo irgendein großer Fisch aufgetragen wurde, der im Gegensatz zu Messern und Gabeln schon in jener Urzeit existiert hatte. « Wieder staunt man, daß jemand, der sich so verzweifelt bemüht, ständig » in die Ferne zu blicken «, dabei doch so viel wahrnimmt und es noch Jahre später rekapitulieren kann. Vielleicht ist das die gesteigerte Aufmerksamkeit desjenigen, der einschlafen will und den noch das leiseste Geräusch wachhält.
Durch die Bekanntschaft mit Madame de Villeparisis nimmt auch die Prinzessin von Luxemburg von Marcel und seiner Großmutter Notiz: » Sie hatte sogar in ihrem Eifer, nicht so zu wirken, als throne sie in einer über der unseren liegenden Sphäre, zweifellos die Distanz falsch berechnet, denn infolge einer falschen Einstellung tränkten sich ihre Blicke mit derartiger Güte, daß ich den Augenblick kommen sah, da sie uns streicheln würde wie zwei nette Tiere, die im Jardin d’Acclimatation durch ein Gitter ihren Kopf vorstreckten. « Die Distanz zwischen den Schichten, damals immerhin noch einzuschätzen. Heute befinden wir uns immer im Zweifel, sind aber immer noch zu einer ständigen Berechnung des Neigungswinkels gezwungen, den man einnehmen muß, um zu den anderen herab- oder hinaufzureichen. Manchmal spricht man auf einer Party mit jemandem, und es ist einem selbst fast peinlich, daß er » die Distanz falsch berechnet hat « oder der vermittelnde Dritte verschwunden ist, und er sich jetzt mit einem unterhalten muß. Wenn es sich um einen bekannten Autor handelt, möchte man ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legen und sagen: »Es wird alles gut, ich werde eines Tages so bedeutend sein, daß sich unser jetziges Gespräch im nachhinein als gar nicht so überflüssig erweisen wird.« Und dabei würde man denken: »Ich werde sogar bedeutender sein als du, und du tätest gut daran, dir diesen Moment einzuprägen, weil er einmal zu den glanzvollen in deinem Leben gehören wird.« (Und dann tut mir mein Gegenüber schon wieder leid, weil er von seinem Privileg nichts ahnt.)
Ein wenig hatte ich gestern vorgeblättert und war über einen Satz gestolpert, der einen erotischen Höhepunkt versprach: » Womit war es verdient, daß an dem einen Morgen, nicht aber an einem anderen das spaltbreit geöffnete Fenster meinem bewundernden Blick die Nymphe Glaukonome zeigte, wie sie in träger, weich atmender Schöne die Transparenz des von milchigen Nebeln durchzogenen Smaragdes besaß, in dem ich die Elemente greifbar
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