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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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hinterlassen würden. Außerdem schien Pergen mit jedem Schritt schwerer zu werden, sodass sie den Leichnam alle zwanzig Schritte ablegen mussten, um frische Kräfte zu sammeln. In der Kapelle war Tron die Kordel, die sie um das Bettlaken gewickelt hatten, so dick wie ein Tau vorgekommen. Jetzt erwies sie sich als dünne, scharfe Schnur, die ihm trotz der Handschuhe in die Finger schnitt.
    An der Calle Tintor wandten sie sich nach rechts, überquerten den Rio dei Turchi und erreichten ein paar Minuten später den kleinen Campo vor der Kirche San Degolà. Trotz der Dunkelheit konnte Tron ein paar Meter vor ihnen ein graues Band auf dem Boden ausmachen – die Uferkante des Rio Degolà.
    Vorsichtig traten sie an die Kante, immer darauf bedacht, mit ihrer Last nicht auszurutschen und ins Wasser zu fallen. Außer einer schwarzen Fläche, von der ein kühler Luftzug aufzusteigen schien, konnte Tron nichts erkennen. Aber er wusste, dass das Wasser im Rio Degolà in Bewegung war – die einsetzende Ebbe erzeugte bereits eine schwache Strömung, die auch den Leichnam Pergens in den Canalazzo treiben würde.
    Tron und Alessandro mussten sich nicht darüber verständigen, was zu tun war. Sie ließen den Oberst vorsichtig an der Kante der Uferbefestigung in den Schnee gleiten. Tron spürte, wie sich die Kordel um das Bettlaken löste, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Dann stießen sie Pergen über die Steinkante. Tron hörte das leise Aufklatschen des Leichnams auf dem Wasser und stellte sich vor, wie die schwarze Wasseroberfläche sich jetzt über Pergen schloss. Die Contessa hatte Recht gehabt. Mit ein bisschen Glück würde das zurückweichende Wasser den Leichnam in den Canalazzotreiben, und vielleicht, falls ihn morgen niemand entdeckte, zog der Sog des Wassers den Oberst sogar in die Lagune. Ein Seebegräbnis, dachte Tron. Er musste lächeln, während er sich umdrehte.
    Tron lächelte immer noch, als er die Soldaten sah, denn ein, zwei Augenblicke lang weigerte sich sein Gehirn, zur Kenntnis zu nehmen, was seine Netzhaut bereits registriert hatte.
    Die Patrouille stand so plötzlich vor ihnen, als wäre sie aus dem Schnee emporgewachsen, eine kleine Gruppe kroatischer Jäger, die sich zu einem drohenden Halbkreis formierten und ihre Blendlaternen aufleuchten ließen. Alles, was Tron erkennen konnte, waren drei oder vier sich überlappende Lichtkreise voller Schneeflocken, die träge nach unten sanken, so als würde die Zeit langsamer ablaufen als gewöhnlich.
    «Sie haben etwas ins Wasser geworfen», sagte eine sachliche Stimme, die aus dem Licht heraus zu ihm sprach. Dann senkten sich die Laternen, und Tron konnte den Mann sehen, der gesprochen hatte – ein junger Leutnant, der sich wahrscheinlich fragte, ob es sinnvoll war, seine Zeit mit Leuten zu verschwenden, die nur ein wenig Müll entsorgt hatten.
    Tron brachte ein schuldbewusstes Grinsen zustande. «Ich weiß, dass das verboten ist.»
    Der Leutnant zuckte mit den Achseln. «Es sind
Ihre
Kanäle», sagte er. «Und was haben Sie ins Wasser geworfen?»
    «Einen Hund», sagte Tron. Erstaunlich, dass er so schnell auf eine Antwort gekommen war, die sich einigermaßen plausibel anhörte. Er entspannte sich ein wenig.
    «Und wo?»
    «Direkt hinter mir», sagte Tron. Es wäre sinnlos gewesen, etwas anderes zu behaupten. Die Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatten, waren deutlich genug.
    Der Leutnant erteilte einen Befehl, und aus den Augenwinkeln sah Tron, wie einer der Soldaten niederkniete und seine Laterne über die Stelle hielt, die Tron bezeichnet hatte. Der Lichtkegel schaukelte von rechts nach links, beschrieb über der steinernen Uferkante eine Acht und kam schließlich zur Ruhe. Dann sagte der Soldat schnell und laut etwas auf Kroatisch, das Tron nicht verstand. Er klang erschrocken, fast panisch. Aber die Geste mit dem Zeigefinger war unmissverständlich. Er wollte, dass der Leutnant sah, was er eben entdeckt hatte.
    Der Leutnant machte einen Schritt an die Uferbefestigung und beugte sich vorsichtig hinab. Tron drehte den Kopf, aber alles, was er erkennen konnte, war der Rücken des Leutnants und die steinerne Kante, die sich hell vom Wasser des Rio Degolà abhob. Dann richtete sich der Leutnant wieder auf, und in seinen Augen lag plötzlich ein Ausdruck, der Tron nicht gefiel. «Ist das Ihr Hund?»
    Tron ging in die Hocke. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Steinkante, beugte sich vor – und sah nach unten.
    Oberst Pergen war weder

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