Schneegestöber (German Edition)
Tür. »Miss Kitty hat dem Burschen noch einige Anweisungen wegen Salomon zu geben. Das Tier ist ganz verstört, weil es seine Herrin vermißt. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
Heather nickte und zog ihre kindliche Stirn in sorgenvolle Falten. »Es ist wirklich allzu hart von Mrs. Clifford, die arme Miss Kitty die ganze Zeit in ihr Zimmer einzusperren. Und das noch dazu ohne Abendessen. Wie kann sie nur so streng sein?« Sie wandte sich wieder zu Kitty um: »Ich nehm’s Ihnen nicht krumm, wenn Sie schlechte Laune haben, Miss Kitty«, versicherte sie gutherzig. »Ich wäre ganz verzweifelt, wäre ich an Ihrer Stelle.« Sie drückte die Türklinke hinunter: »Die Köchin läßt sagen, ich soll Sie schön grüßen«, erinnerte sie sich plötzlich. »Sie hat das Teetablett besonders vollgeladen.«
»Ja, ich seh’s«, erwiderte Mary Ann, die sich plötzlich wieder an ihre Pläne erinnerte. »Wenn ich mich daran beteiligen soll, ist’s wohl besser, ich komme auch nicht zum Abendessen. Meine Kleider beginnen bereits an der Taille zu spannen. Ich kann meinem armen Bruder John nicht zumuten, mir neue zu kaufen. Bitte sei so freundlich, und entschuldige mich bei Mrs. Clifford.«
Heather nickte, und Kitty warf ihrer Freundin einen anerkennenden Blick zu. »Bist du nicht aus Yorkshire, Heather?« erkundigte sie sich unvermittelt. Das Mädchen ließ die Klinke los und wandte sich ihr zu: »Bin ich, bin ich, Miss. Ganz wie Mr. Brown. Eine so schöne Gegend. Gerade im Winter.« Sie ließ einen tiefen Seufzer hören. Kitty warf ihrer Freundin einen verschwörerischen Blick zu. »Ja, ich weiß«, flüsterte sie schließlich und setzte damit Mary Ann in großes Erstaunen. »Wie sehne ich mich dorthin.« Es schien, als wäre sie den Tränen nahe. Mary Ann hörte diese Worte mit Verwunderung. Sie glaubte nicht, daß Kitty jemals in Yorkshire gewesen war. Doch deren Worte schienen sie eines besseren zu belehren: »Mein… äh… mein Cousin hat ein Landhaus in Yorkshire. Dort habe ich meineJugend verbracht. Na ja, zumindest einen Teil davon. Am liebsten würde ich sofort aufbrechen und dorthin fahren.«
»Ich auch, Miss Kitty«, meinte Heather verständnisvoll. »Ach, das finde ich toll, daß Sie schon einmal in Yorkshire waren. Ganz riesig finde ich das.« Als Kitty, scheinbar ganz in Gedanken versunken, nicht mehr weitersprach, knickste sie abermals und verließ geräuschlos den Raum.
»Was soll das?« platze Mary Ann heraus, sobald die Dienerin das Zimmer verlassen hatte. »Du warst doch dein Leben lang noch nicht in Yorkshire!«
»Natürlich nicht!« gab Kitty zu und lachte zufrieden. »Aber wenn man morgen unsere Abwesenheit entdeckt, wird Heather verkünden, wir seien zu meinem Cousin nach Yorkshire gefahren. Damit sind wir unsere Verfolger erst einmal los. Niemand wird so schnell auf die Idee kommen, uns in London zu suchen.«
Nun lachten alle drei.
Die weiteren Vorbereitungen waren rasch getroffen. Kitty und Mary Ann packten das Nötigste in zwei Reisetaschen, die Al noch am selben Abend in der Kutsche verstauen sollte. Über den Beginn der Abfahrt gab es eine kurze Meinungsverschiedenheit, als Al sich weigerte, bei Nacht loszufahren. Der Mond war zur Zeit kaum mehr als eine schmale Sichel. Es war ein zu hohes Risiko, auf der unbeleuchteten Straße in ein Schlagloch zu geraten und mit umgestürzter Kutsche im Straßengraben zu enden. Von der Gefahr, überfallen zu werden, gar nicht zu reden. Zudem würde man keine weite Strecke mehr schaffen und damit den Verfolgern die Möglichkeit geben, sie rasch aufzuspüren. Abgesehen davon, daß ihnen kein Wirt zu allzu später Stunde mehr Unterkunft gewähren würde. Diesen vernünftigen Argumenten konnten sich die beiden Mädchen nicht verschließen.
Sie vereinbarten, sich am kommenden Morgen vor Sonnenaufgang im Stall zu treffen. Um sechs Uhr früh war noch niemand auf, und ihr Verschwinden würde frühestens drei Stunden später bemerkt werden, wenn Heather das Frühstückstablett für Kitty aufs Zimmer brachte. Al nahm die beiden Reisetaschen, spähte vorsichtig auf den Flur hinaus, und als er niemanden sah, verschwand er rasch über die Hintertreppe. Der Abend zog sich in die Länge. Die beiden Freundinnenhatten sich früh zu Bett begeben, um am nächsten Morgen ausgeruht und frisch die weite Reise zu beginnen. Doch nun lagen sie noch lange wach und machten Pläne für ihren Aufenthalt in der Hauptstadt. Natürlich würde es ihnen gelingen, den alten Onkel um den
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