Schneestille
Sadies Kopf hinter den langen weichen Schlappohren zwischen beide Hände. Er wollte an ihrem Atem schnüffeln, weil er wissen wollte, was sie in letzter Zeit gefressen hatte. Sie dachte, er wolle mit ihr spielen, und leckte ihn ab. Ein ganzer Schwall warmen Hundeatems strömte ihm entgegen, aber der roch nach nichts. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie Hundeatem roch.
Fischig, dachte er, selbst wenn sie keinen Fisch gefressen hatte; und mehlig, nach Keksen; und erdig, wie der Boden, wenn es geregnet hatte; und wie gelbes Wiesengras; und nach Teichwasser; und … stopp . Er musste damit aufhören. Er sagte sich, dass er aufhören musste, weil er bei dieser Aufzählung an all die Dinge denken musste, die er nie wieder riechen oder schmecken oder erleben würde, außer in seiner Erinnerung; und obwohl die Erinnerung sie kurz heraufbeschwören konnte, war dieser Gedanke ihm bittersüß.
Wieder schnappte er sich den Hund, Sadie leckte ihn ab, und diesmal roch er in ihrem warmen Atem alles, woran er eben gedacht hatte. Er ging aus der Küche, und der Hund folgte ihm.
Zoe war in ihrem Zimmer.
»Darf Sadie bei uns im Zimmer schlafen?«
»Momentan wären mir sogar Sadies Flöhe willkommen, wenn sie welche hätte. Es ist einfach wunderbar, ein anderes lebendes Wesen zu sehen.«
»Na ja, wobei sie wohl eher ein anderes totes Wesen ist. Ich meine, schließlich habe ich sie selbst vor ein paar Jahren bei uns im Garten begraben. Unter dem Pflaumenbaum, der nie Früchte getragen hat. Im nächsten Jahr hing der ganze Baum voller Pflaumen.«
»Nährstoffe.«
»Oder ihre Art, zurückzukommen und Hallo zu sagen? Soll ich ganz ehrlich sein? Als mein Dad gestorben ist, habe ich nicht geweint, aber als ich Sadie begraben habe, habe ich geheult wie ein Schlosshund. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?«
»Ein schlechter Mensch?«
»Weil mein Hund mir näher war. Gewisse Leute würden sagen, mit mir stimmt was nicht.«
»Als du noch gelebt hast, war es dir doch herzlich schnuppe, was ›gewisse Leute‹ sagen. Warum solltest du jetzt, wo du tot bist, was auf ihre Meinung geben? Herrje, es kommt mir so komisch vor, das zu sagen, aber du weißt, was ich meine. Dein Vater hat nie irgendwelche Gefühlsregungen gezeigt. Das hast du mir doch selbst erzählt.«
Er ging zum Fenster und schaute hinaus, wo die Dunkelheit über das makellose Weiß kroch, das alles umhüllte wie Marzipan eine Hochzeitstorte. »Eiskalt wie der Schnee. Essen auf dem Tisch, was anzuziehen, eine gute Schulbildung und nie auch nur eine einzige Umarmung. Keine einzige.«
»Das war eine andere Generation, Jake.«
»Tja, damit haben sie jedenfalls mal gründlich danebengelegen. Wenn ich Kinder hätte, würde ich …«
»Was würdest du?«
Er drehte sich zu dem Hund um. »Komm her, mein Mädchen!«
Beinahe hätte Zoe was gesagt. Aber sie brachte kein Wort heraus.
Am selben Abend, als sie sich dann bettfertig machten, legte Jake für Sadie eine Decke auf den Boden, damit sie es sich vor der Wand gemütlich machen konnte. Sadie warf sich auf die Decke, als hätte sie nie woanders geschlafen. Mit dem Kopf zwischen den Vorderpfoten lag sie da und schaute sie mit großen Knopfaugen an. Jake ging ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Und als Zoe dann die Bettdecke zurückschlug, passierte es.
Das Licht wurde kurz dunkler, flackerte und ging dann aus. Nach einigen Sekunden Dunkelheit ging es wieder an.
Mit der Zahnbürste in der Hand kam Jake aus dem Badezimmer. »Was war das denn?«
»Das Licht ist ausgegangen.«
»Das habe ich auch gemerkt. Ich meine, warum?«
Zoe starrte ihn bloß an.
»Sind sie im ganzen Ort ausgegangen?«
»Keine Ahnung.«
»Meinst du, das war nur in unserem Zimmer? Oder nur in unserem Hotel?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was das wohl zu bedeuten hat?«, meinte er.
Sadie stand da und schaute sie an. Dann bellte sie einmal.
»Muss denn alles immer irgendwas zu bedeuten haben?«, fragte Zoe.
Jake trat ans Fenster. »Draußen ist das Licht immer noch an.«
»Komm ins Bett.«
»Ich frage mich, was da los war.«
»Komm ins Bett.«
7
Am Morgen stand Zoe auf, schlüpfte in den Frotteebademantel und machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem zum Frühstück. Sie wollte alles so normal wie möglich halten für Jake, und ein Tablett beladen mit Toast, Speck, Kaffee und Saft und mit einem Blümchen, das sie aus dem Foyer mitgehen ließ, sollte seinen Teil dazu beitragen. Das war auch so eine Sache: Die frischen Blumen in
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