Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
bestand nach wie vor und hatte laut Impressum ihren Hauptsitz in München. Die Website der Gruppe verriet nicht viel, allerdings schien jedes Jahr ein Olaf-Madsen-Förderpreis für Umweltfragen ausgeschrieben zu werden, der mit stattlichen zwanzigtausend Euro dotiert war. Werneuchen hatte in einem kurzen Kommentar darauf hingewiesen, dass der Großteil von Olaf Madsens Erbe in Form einer Stiftung verwaltet werde. Das Kapital sei in verschiedenen, durchweg als solide geltenden Fonds angelegt und habe sich seit Antritt des Erbes vor rund fünf Jahren trotz diverser Projekte, die darüber finanziert worden waren, noch nicht nennenswert vermindert.
»Somit können wir Bereicherung als mögliches Motiv für den Mord an Olaf Madsen wohl wirklich ad acta legen«, murmelte Winnie vor sich hin, während sie die Datei schloss und eine andere öffnete: Nikolai Bastianiuk, dessen Eltern und Geschwister bei dem von Karlheinz Rogolny befohlenen Massaker ihr Leben verloren hatten, war zwar zum Zeitpunkt von Rogolnys Ermordung in Deutschland gewesen, besaß jedoch für die Nacht, in der Ackermann ermordet worden war, ein wasserdichtes Alibi. Und überhaupt, dachte Winnie, weshalb hätte er Ackermann ermorden sollen? Wahrscheinlich war er Ackermann sogar dankbar, dass er den Mörder seiner Familie getötet hat …
Ihre Augen blieben an einem Foto hängen, das Werneuchen als Anhang beigefügt hatte. Es zeigte Karlheinz Rogolny kurz vor seinem Tod im Kreise einiger Mitbewohner in der Eingangshalle von St. Hildegard. Direkt unter dem Knoten seiner Krawatte trug er die Brosche, von der Ines Heider gesprochen hatte: vier Pferdeköpfe in Gold, die so angeordnet waren, dass die Winkel ein Hakenkreuz ergaben.
Winnie vergrößerte den betreffenden Abschnitt und betrachtete das Schmuckstück mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Wie einfach es doch war, die Gesetze im Hinblick auf verbotene Symbole zu umgehen!
Er behauptete immer, Edda Göring trage auch so ein Ding,
flüsterte ihr Ines Heiders Stimme aus der Ecke hinter Verhoevens Schreibtisch zu.
»Und wenn schon«, murrte Winnie, indem sie auf den Button »Anhang schließen« klickte und ihren Explorer öffnete, wo sie – mehr aus Ratlosigkeit als gezielt – den Namen »Edda Göring« in die Suchmaschine eingab. Sofort erschien eine geradezu endlose Liste von Treffern. Winnie entschied sich der Einfachheit halber für Wikipedia und fand dort folgende Informationen:
EDDA GÖRING , geboren am 2 . Juni 1938 , ist die Tochter des nationalsozialistischen Politikers und Reichsmarschalls Hermann Göring und seiner zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Emmy Göring, geb. Sonnemann.
Sie scrollte tiefer.
Edda Göring arbeitete als Angestellte im medizinischen Bereich. Sie blieb unverheiratet und widmete sich neben ihrem Beruf der Betreuung ihrer Mutter. Zuletzt arbeitete sie in einer Wiesbadener Rehaklinik. Sie ist angeblich heute noch stolz darauf, den Namen Göring zu tragen. Die NS -Verbrechen werden von ihr nicht geleugnet, was aber dem idealisierten Bild des Vaters keinen Abbruch tut.
Wiesbaden! Ausgerechnet! Winnie schüttelte den Kopf. Die Welt war doch wirklich ein Dorf!
Sie überlegte einen Moment, dann fütterte sie die Suchmaschine mit einem neuen Begriff, der sie seit geraumer Zeit umtrieb:
PIQUE DAME – Oper in drei Akten und sieben Bildern von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach einem Libretto seines jüngeren Bruders Modest Tschaikowski, das auf der gleichnamigen Erzählung des russischen Dichters Alexander Puschkin basiert …
Winnie fuhr sich entnervt durch die Haare. Machte es eigentlich irgendeinen Sinn, was sie hier tat? Oder war sie am Ende einfach nur zu müde, um nach Hause zu fahren?
Sie nahm einen Schluck kalten Kaffee und fühlte einen Anflug von Neid in sich aufsteigen. Darauf, dass Verhoeven eine Familie hatte. Dass es für ihn etwas gab, das außerhalb des Jobs lag. Etwas von Bedeutung …
Ihre Nackenmuskeln brannten von den zurückliegenden Anstrengungen, an die sie nicht gewöhnt war, und sie hatte das wenig ermutigende Gefühl, dass sie sich schon sehr bald nicht einmal mehr dazu würde aufraffen können, sich von ihrem Schreibtischstuhl zu erheben.
Gibt es eine Annabelle-Oper?,
wollte eine imaginäre Nina wissen.
Ich konnte Wagners Musik noch nie ausstehen,
erklärte die glücksdrachige Jamila Hartwig.
Winnie massierte sich einhändig die Nackenmuskeln und klickte den nächsten Artikel an, den die virtuelle Enzyklopädie ihr anbot:
PIQUE DAME
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