Schnittstellen
meine Oma gesagt hätte, dass zu viel in den Spiegel gucken dumm macht. Ich fühle mich dadurch aber nicht dümmer, nur schlechter. Ich blicke einen Moment in den Spiegel und hasse mich für diese kurze Zeit. Ich sehe länger hinein und hasse mich die ganze Weile. Ich stelle mich näher an den Spiegel heran, vielleicht in der Hoffnung irgendetwas zu finden, was nicht hassenswert ist, was mich selbst beschwichtigt. Aber was an einer Missgeburt könnte nicht abstoßend sein? Ich will mein Spiegelbild nicht sehen! Ich will mich nicht sehen! Ich will nicht, dass dieser Spiegel mir mein grauenhaftes Abbild zeigt, weil ich es hasse, weil ich mich hasse, weil ich weiß, dass ich tot sein und kein Spiegelbild haben sollte!
Scherben. Ich muss nicht mehr stehen. Ich setze mich. Vor die Scherben. Zu den Scherben. Ich mag Scherben, Scherben bringen Glück! Scherben bringen mir Ruhe, ich könnte mich mit ihnen schneiden. Ich hebe eine der Scherben auf. Stumpf. Recht stumpf. Immer wieder das Gleiche. Auf Scherben müsse man achten, man kann sich leicht schneiden. Dumme Menschheit! An Scherben schneidet sich nur der, der nicht geschnitten werden will! Ich habe schon so viel zerbrochenes Glas anfassen müssen, ich habe schon so viele Scherben anfassen müssen, und ich habe mich kein Mal geschnitten! Und dabei wäre es mir doch recht gewesen. Ein Schnitt. Was ist ein Schnitt? Man stirbt nicht daran. An einem kleinen Schnitt. Ich sterbe nicht daran, wenn ich mir meine Arme aufritze. Eine Klassenkameradin sagte, dass man schon ganz schön ordentlich an seinen Armen rumschlachten müsse, bis man dadurch verblute. Stimmt wahrscheinlich. Ich ritze mich und bin davon noch nicht sehr oft gestorben. Ich bin dadurch nur lebendig geworden. Wenn es das ist, was der tote, vor sich hindümpelnde Zombiemensch, diese Zombiegesellschaft meint, wenn sie sterben sagt, dann kann ich sagen: »Ja, ich sterbe vom Ritzen. Wieder und wieder sterbe ich. Und der Tod tut so gut.«
Anja
Als ich nach Hause komme, weiß ich sofort, es ist etwas passiert. Meikes Zimmertür ist geschlossen, aber sie ist da, das spüre ich. Jeder kennt das, Stille ohne Menschen hört sich völlig anders an als Stille mit Menschen.
Es ist die Stille mit einem Menschen: Meike. Und zum wiederholten Mal ist Meikes Stille schwarz. Ich habe Angst. Nach Waldmünchen, dem Abschluss der zehnten Klasse, den Ferien … der Versuch, das elfte Schuljahr anzugehen, misslingt. Von Anfang an ist alles wieder da … der Krampf … die Kopfschmerzen … die Abwehr … die Traurigkeit … und die Wut. Ich habe Angst, weil ich den Eindruck habe, es gibt immer noch eine Steigerung. Von allem. Ich hatte so gehofft, dass Meike die Kurve bekommt. Heute morgen war sie mit mir zusammen aus dem Haus gegangen. Hatte sie mir die Zuversicht vorgespielt? Ich hatte gedacht, über das Stadium seien wir hinaus. Meikes Zimmertür zu öffnen ist immer anders. Es herrscht Chaos. Es herrscht Ordnung. Es stinkt nach ihren Tieren. Es duftet nach Heu. Meike schaut erfreut auf. Sie starrt vor sich hin. Sie dreht sich weg. Sie schläft … Ich schaue an die Decke und wünsche mir, dass sie auch heute schläft. Dann könnte auch ich mich erst einmal ausruhen. Es ist alles so viel zurzeit.
Ich schaue an die Decke und weiß, die schwarze Stille lässt nicht zu, dass ich mich ausruhe. Ich stelle meine Tasche ab und tappe langsam durch die Diele. Leise klopfe ich. Nichts. Vorsichtig drücke ich die Klinke von Meikes Zimmertür hinunter. Ich öffne die Tür einen Spalt und lasse entsetzt die Klinke los. Meike sitzt zwischen Spiegelscherben und Blut. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich weiß nicht, was passiert ist. Hat Meike mit jemandem gekämpft? Sie sitzt weiß und starr zwischen den Scherben. Am Bein klafft eine Wunde, wie ich sie noch nie gesehen habe, das Laminat ist blutverschmiert und übersät von Spiegelscherben, und eine Rasierklinge liegt zwischen Meikes blutigen Beinen. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich knie mich neben sie, ich nehme sie in den Arm. Ich frage nicht warum, denn ich weiß, dass Meike die Antwort nicht weiß. Sie lehnt sich gegen mich und sagt: »Spiegelscherben sind scheiße.«
III. TEIL
NOTAUSGANG
Der Mensch ist ein Mikrokosmos, er ist ein Gewächs, organisch wie eine Frucht, er hat Farbe, Zerbrechlichkeit und Süße. Ihn zu manipulieren, zu konditionieren, bedeutet ihn in ein mechanisches Objekt zu verwandeln – eine Uhrwerk-Orange.
(Anthony Burgess, Uhrwerk Orange)
»Fuck!« Du bist
Weitere Kostenlose Bücher