Schnittstellen
Zustimmung in der Klasse fand, blieb mir haften. »Aber Frau Abens, umbringen tun sich nur die Gymnasiasten, wir sind doch Hauptschüler.«
Wenn das stimmt, womit hat das zu tun? Dass die Anforderungen anders sind? Dass die Schüler an unserer Schulform ihre Probleme extrovertierter zum Ausdruck bringen? Dass Kinder, die kopflastiger sind, mehr grübeln? Na, dann hätte die Armada der Schulpsychologen erst mal ins Gymnasium einfallen sollen, um sich dann bis in die Hauptschule fortzusetzen.
Ich weiß noch, wie Jonas mir völlig fertig von einem ehemaligen Klassenkameraden erzählte. »Mama«, sagte er, »ausgerechnet Flip. Wir alle haben gedacht, er ist unser Überflieger. Immer nur Einser, immer zielbewusst. Ich habe gedacht, der ist stark, so würde ich auch gern sein. Und jetzt? Jetzt hat er sich umgebracht, in Berlin. Dabei studierte er doch erfolgreich Architektur. Ich fass es nicht.«
Jonas wollte immer ein harter Bursche sein, seine eigene Empfindlichkeit hat ihn aufgeregt. Der Verlust eines Kameraden, den er für einen solchen toughen Kerl gehalten hatte, traf ihn bis ins Mark.
So, und jetzt ist für Meike die Aussicht darauf, der Schule den Rücken zuzukehren, der Himmel auf Erden. Überrascht mich das wirklich? Nein. Ich hatte einfach gehofft, wir könnten ihr zu der Dickfelligkeit verhelfen, die dazu gehört, ein solches System zu durchlaufen. Aber dieses Gen liegt wohl nicht in unserer Familie.
Wie kommt man aber jetzt an solch einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz beim Bestatter heran, die Bewerbungsphasen sind lange vorbei, das neue Ausbildungsjahr hat bereits angefangen. Meike ist hochmotiviert, sie will zunächst die Bestatter in unserem Viertel abklappern.
Meike
Es gibt einige Bestattungsunternehmen in der Nähe. Aber ich habe voll den Horror, mein Anliegen vorzubringen, ohne dass mich einer danach fragt. Für andere könnte ich mich erkundigen, aber nicht für mich selbst. Bei zwei Unternehmen habe ich mir das Fenster angeschaut, aber mich dann doch nicht getraut hineinzugehen. Bei dem dritten hing ein Plakat im Ladenfenster mit Rufnummern und einer Adresse in Brühl. Das Unternehmen hat in unserem Viertel nur eine kleine Filiale. Die Informationen habe ich mir notiert.
Meine Eltern meinen, ich soll zuerst anrufen. Ich habe aber Schiss. Meine Mutter will jedoch nicht warten, und darüber bin ich ausnahmsweise mal froh. Ich möchte auch am liebsten sofort einen Job. Als ich mich immer noch nicht überwinden kann, wählt meine Mutter die Nummer in Brühl. Zu unserer Überraschung kann ich gleich am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch vorbeikommen.
Ich bin aufgeregt wegen des Vorstellungsgesprächs. Ich habe mich bisher nur einmal für ein Schülerpraktikum in einem Kindergarten vorgestellt, und ich kannte die Kindergärtnerin, weil ich dort früher selbst Kindergartenkind war und den Hort besucht habe. Mit fremden Menschen zu sprechen ist eine Qual für mich. Das vermeide ich möglichst, ich gehe nicht mal zum Bäcker oder zum Kiosk. Manchmal zum Supermarkt, aber nur wenn es sein muss. Dabei muss man im Supermarkt gar nicht sagen, was man will: Man nimmt sich, was man braucht, geht zur Kasse, gibt das entsprechende Geld und verschwindet. Wenn ich eine Ausbildung anfangen möchte, werde ich mich wahrscheinlich daran gewöhnen müssen, mehr mit Menschen zu reden als bisher. Aber okay, wenn ich dafür nicht in die Schule muss, dann werde ich das schon schaffen. Bei einem Bestatter gibt es aber sicher nicht so viele Gesprächsanlässe. Tote sprechen nicht, Tote fordern nichts.
Morgen fahre ich also mit meiner Mutter nach Brühl zum Bestattungsunternehmen Kuckensiel.
Anja
Nicht zu glauben. Also in dieser Hinsicht haben die Mitglieder unserer Familie den goldenen Helm auf. Alle bekommen immer sofort den Job, für den sie sich bewerben. Ob das gut ist, bleibt dahingestellt, denn wir erfüllen von jeher äußerst pflicht- und verantwortungsbewusst alle Anforderungen und fragen uns sehr spät, ob wir es nicht auch noch an für uns geeigneteren Aufgabengebieten versuchen sollten. Raus aus einer Tretmühle ist nicht das Einfachste, denn sie bedeutet nicht zuletzt Sicherheit. Na, zuerst einmal ist man auf jeden Fall glücklich. So auch Meike.
Das Vorstellungsgespräch verläuft völlig ungezwungen. Herr Kuckensiel ist nur am Anfang etwas skeptisch, weil Meike erst sechzehn ist. Interessiert schaut er ihr Zeugnis an. Deutsch und Englisch gut, Latein befriedigend.
»Also, an deinen
Weitere Kostenlose Bücher