Schnupperküsse: Roman (German Edition)
nicht akzeptierte. So behandelt man keine Dame.«
Ich fühle mich geschmeichelt, dass er denkt, ich sei eine Dame. Und ich freue mich noch mehr, als er mir in die Augen blickt und stockend hinzufügt: »Du bist eine wunderbare Frau, Jennie …«
Ich fasse mir an den Hals, mein Puls scheint einen Schlag auszusetzen. Er hat mir ein Kompliment gemacht, zwar etwas ungeschickt, aber es ist dennoch ein Kompliment.
»Er erinnert mich an meinen Bruder. Eigentlich haben sie weder Respekt vor Frauen noch vor jemand anderem«, fährt Guy verdrießlich fort. »Ich kann nicht begreifen, warum sich sämtliche Frauen von Talyton in ihn verliebten. Ich kann es mir nur mit ihrer Launenhaftigkeit erklären. Bei Tasha war es auf jeden Fall so …« Seine Stimme verstummt.
»Du kannst nicht von einer Frau auf alle schließen«, widerspreche ich ihm. »Wir sind nicht alle gleich.« Ich würde nie und nimmer mit jemandem wie Hugo davonlaufen oder mit Guys Bruder oder sonst jemandem – noch nicht einmal mit Guy. Gut, ich gebe zu, einen Anflug von Lust verspürt zu haben, als er seinen Overall auszog, und über das Kompliment habe ich mich auch gefreut, trotzdem ist da zwischen uns nicht mehr als eine sich langsam vertiefende Freundschaft. Egal, ob er mit dieser Ruthie zusammen ist oder nicht, er scheint über seine Exfrau immer noch nicht hinweg zu sein, denn er spricht so häufig über sie, dass ich den Eindruck bekomme, er könnte die Trennung vielleicht nie überwinden, weil er so sehr verletzt wurde.
»Normalerweise gehe ich nicht so schnell in die Luft«, sagt er und kehrt zum Grund seiner Wut zurück. »Vielleicht kommen da die Gene meines Vaters durch. Er war ein Kontrollfreak und verlor die Beherrschung, sobald etwas nicht nach seiner Vorstellung lief – sei es mein Bruder, das Wetter oder Regen während der Heuernte. Ich erinnere mich noch, wie er einmal auf einem Feld stand, als es regnete. Das Heu war schon geschnitten und sollte trocknen, bevor wir es zu Ballen verpacken wollten. Dad schrie und hielt die geballte Faust zum Himmel.« Guy lächelt reuevoll. »Kein Wunder, dass er es am Schluss am Herzen hatte, er war immer völlig gestresst.« Er hält inne und sagt dann: »Ich habe meinen Vater respektiert, aber nie geliebt. Ich möchte nicht so sein wie er.« Er sieht mich mit eindringlichem Blick an. »Ich möchte nicht, dass irgendjemand vor mir Angst hat.«
Das habe ich nicht, denke ich. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, von ihm beschützt zu werden.
Guy fährt fort. »Mum fürchtete sich vor ihm. Als er starb, blühte sie auf – doch ihre Freiheit war nur von kurzer Dauer. Plötzlich begann sie, die einfachsten Dinge zu vergessen – sie war nicht mehr sie selbst.«
Er verstummt, und ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb konzentriere ich mich darauf, mit einem Holzstäbchen in die drei Etagen der Hochzeitstorte zu fahren.
»Ich habe Mum enttäuscht«, sagt er und fährt fort. »Sie wollte zu Hause bleiben, und ich musste es ihr versprechen. Doch dann ließ ich sie im Stich. Ihre Sachen zusammenzupacken und sie in dieses Heim zu bringen war das Schwerste, was ich je tun musste.«
»Man kann nicht gleichzeitig einen Hof führen und rund um die Uhr jemanden pflegen, das ist unmöglich. Hättest du nicht einen Pfleger einstellen können, der auch auf dem Hof gewohnt hätte?«
»Das habe ich versucht, doch Pflegekräfte für Demenzkranke sind rar, besonders hier.«
»Soweit ich das beurteilen kann, hast du alles getan, was in deiner Macht stand.« Ich nehme den Verschluss von der Flasche und beträufele jede Etage mit dem Brandy, der in die Löcher eindringt, die durch die Holzstäbchen entstanden sind.
»Ja, aber trotzdem frage ich mich, was ich noch hätte tun können. Hätte ich noch geduldiger sein können? Hätte sie noch länger auf dem Hof bleiben können?« Er schüttelt den Kopf. »Am Schluss war sie gewalttätig und ausfallend, doch dafür konnte sie nichts. Eines Tages aber brachte sie mich an meine Grenzen. Sie lief immer wieder fort – die Leute waren sehr nett und brachten sie jedes Mal zurück, wenn sie sie in der Stadt trafen oder auf dem Feld vorfanden. Fifi versuchte, mir zu helfen und mich zu der Einsicht zu bringen, dass ich es nicht schaffen könnte, doch ich jagte sie zum Teufel.«
»Ich musste Mum einsperren, wenn ich nicht zu Hause war. Eines Tages aber konnte sie entwischen und ging in die Scheune, wo sie ein Streichholz anzündete und das Heu in Brand steckte. Ich kann es mir
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