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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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kann er eine Uhr ticken hören. Darunter ein anderes Geräusch, ein Rauschen und Gurgeln, er kann es nicht lokalisieren, er weiß nicht, was es ist. Das sind die einzigen Geräusche in der Wohnung, das Haus ist ganz ruhig. Er rührt sich nicht vom Eingang weg, die Stille hat nach ihm gegriffen, umringt ihn jetzt, es ist allzu still, allzu unwirklich, er hat sich in etwas hineingewagt, das ihn zu ersticken droht. Die Staubflocken scheinen sich schneller zu bewegen, zu wirbeln, in der Stille auf ihn zuzuwirbeln, er weiß, hier stimmt etwas nicht, er kann sich nicht bewegen. Der Teppich ist dick und grün, er mustert ihn jetzt, horcht aber in Wirklichkeit; er tut so, als mustere er den Teppich in diesem stillen Haus, gibt es denn kein Geräusch? Er unterscheidet die Wollfasern des Teppichs, entdeckt einen Fleck, seine Ohren spüren jedem Laut nach, doch er hört nichts; man hält sie immer für eine Italienerin, ma lei è italiana , sicuramente ?, und sie antwortet, immer mit einem seltsamen, geheimnisvollen geschmeichelten Lächeln, no , non sono italiana , aber mehr sagt sie ihnen nicht; es ist zu still in dieser Wohnung. Er möchte aufschreien.
    Unermüdlich steigen die Staubflocken in der Säule aus Sonnenlicht.
    »He, kommen Sie jetzt?« ruft L.J.
    Buddwing blinzelte. Er atmete schwer, die hängenden Fäuste geballt. Er blinzelte noch einmal, wandte der Stimme, die ihn rief, den Blick zu und sah eine Gestalt in schwarzer Lederjacke, die er nur vage erkannte. Kannte er diesen Menschen? Hatte er diesen Menschen je richtig gekannt, hatte er … ja, natürlich kannte er sie, natürlich waren sie sehr wichtig. Und als er den ersten Schritt tat, um zu seinem Freund in der schwarzen Lederjacke zu gehen, öffnete sich die Tür des Hauses auf der anderen Straßenseite, sein Herz begann zu hämmern, und er wandte sich ihr zu, als sie die Stufen herunterkam.

6
    Während er die Straße überquerte, hatte sie den Gehsteig schon erreicht, sich abgewandt und ging schnell mit langen schwarzen Beinen dem Broadway zu, den Kopf gesenkt, mit flatterndem Pferdeschwanz.
    »Doris!« rief er, aber sie drehte sich nicht um. »Doris!« schrie er abermals und begann, ihr nachzulaufen. Er hörte, wie L.J. etwas hinter ihm herrief, doch seine Stimme klang undeutlich und weit weg. Doris trug schwarze Pumps mit hohen Pfennigabsätzen; sie trippelte mit Siebenmeilenschritten über den Gehsteig. Himmel, wie schnell sie ging! »He, warte doch!« rief er. Sie drehte sich nicht um. Laufend erreichte er sie und fiel neben ihr in Schritt.
    »Hallo«, sagte er.
    Erschreckt wandte sie sich zu ihm um, und er bemerkte als erstes, daß ihre Augen nicht braun waren – sie waren grün. Sie musterte ihn mit jenem besonderen, argwöhnisch schockierten und unglaublich abweisenden Ausdruck fast aller New Yorker, wenn sie von völlig Fremden begrüßt werden. Dann brachte sie den Zaubertrick zustande, gleichzeitig arrogant die Nase zu rümpfen, überlegen die Brauen zu heben und den Mund angeekelt zu verziehen. Sie beschleunigte ihren ohnehin schon atemberaubenden Schritt, ihr kleiner Hintern bewegte sich vehement, ihre langen Beine fraßen Beton, und sie ließ ihn auf dem Pflaster hinter sich.
    »He, Doris!« rief er, lief ein paar Schritte, um sie wieder einzuholen und fiel ein zweites Mal neben ihr in Schritt. »Bitte, geh doch langsamer.«
    »Ich heiße nicht Doris«, sagte sie. Sie hatte eine helle, kleine, kecke Stimme, in der alle Tonfälle und Rhythmen New Yorks mitschwangen; sie klang ihm vertraut und angenehm in den Ohren.
    »Aber sicher doch«, sagte er.
    »Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen?« sagte sie, wandte aber den Kopf, um ihm einen Blick zuzuwerfen, rümpfte wieder die Nase, hob die Brauen, verzog den Mund und hätte vielleicht nochmals den Schritt beschleunigt, doch er vermutete, daß auch ihr der Atem auszugehen begann.
    »Ich habe eine halbe Stunde auf dich gewartet«, sagte er. »Was hattest du da drinnen so lange zu tun?«
    »Das«, sagte sie, »geht Sie nichts an.« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu und rümpfte nochmals die Nase, wie um anzudeuten, daß sie nur auf ihn herabblicken konnte, obwohl er nahezu einen Kopf größer war als sie. Doch sie war ein hübsches, großes Mädchen; er schätzte sie auf einsfünfundsechzig bis einsachtundsechzig. Ihre Nase war etwas länger, als er sie in Erinnerung hatte, aber recht reizvoll geformt, mit einem Saturday-Evening -Post-Schwung, der ein wenig frühreif wirkte. Ihre Unterlippe

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