Schockstarre
Aushilfe in einem Reisebüro.«
Katinka sah sich skeptisch in der kleinen Wohnung um. Sie fragte sich, wie es mit Alissas Ansprüchen an das Leben aussah, und ob sie sich in erster Linie ein wenig mehr Luxus von der Ehe mit Frank Mendel erhofft hatte.
»Frank hat doch sicher viel Geld verdient«, mutmaßte sie.
»Die Mendels haben drei Kinder. Die fressen denen die Haare vom Kopf. Jedes ein Handy, Ferien in schicken Clubs, und dann hatten Frank und Maria ja einen Ehevertrag. Weil seine Frau nicht arbeiten ging, wegen der Kinder, trafen sie bei der Heirat Abmachungen, die Maria im Fall einer Scheidung vergleichsweise gut dastehen lassen.« Alissa fuhr sich immer wieder mit beiden Händen durchs Haar, bis es an ihrem Kopf klebte wie festgekleistert. »Heute Nacht ist er erschossen worden. Gleich hier, keine zehn Minuten von mir. Ich habe schlecht geschlafen. Als hätte ich es geahnt.« Alissa wandte das Gesicht ab.
»Sind wir hier denn in der Nähe des Hofgartens?«
Alissa machte eine unbestimmte Bewegung mit dem ausgestreckten Daumen, als wolle sie trampen.
»Ja, sicher, nur ein Stück die Straße rauf, wir grenzen sozusagen an den Hofgarten an.«
Katinka beschloss, dass sie einen Stadtplan brauchte, und fragte:
»Sie waren heute Nacht allein zu Hause?« Erschrocken ballte Katinka die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Sie konnte es nicht lassen. Berufskrankheit. Die Fragen brachen aus ihr heraus wie Mark aus einer überreifen Frucht. Zum Glück schien Alissa sich nicht zu wundern.
»Ja. Nachts bin ich allein hier. Frank wollte bis zur Scheidung bei seiner Frau übernachten. Habe ich nie so ganz verstanden, ihre Ehe war sowieso erledigt. Er blieb bei mir bis gegen Mitternacht, dann machte er sich auf die Socken.«
Mitternacht, rechnete Katinka schnell nach. Und um 3 Uhr wurde er erschossen.
»Aber er war unruhig«, fügte Alissa an. »Nervös. Viel nervöser als sonst. Ich meine, er ist immer getrieben von seinen Projekten und seiner Arbeit und dem Stress mit seiner Scheidung und so. Aber gestern Abend war er … richtig aufgeladen. Überreizt. Permanent schnappte er sich sein Handy und guckte nach, ob irgendwelche Anrufe waren.«
Katinka zwang sich, Alissa Herbst nicht zu fragen, ob sie der Polizei davon erzählt hatte.
»Danke«, sagte sie stattdessen und reichte Mendels Geliebter die Hand. »Danke. Und mein Beileid.«
Als sie frierend auf der Straße stand, kramte sie aus ihrem Rucksack endlich das Notizbuch und kritzelte im Schein der Straßenlaterne drei Stichpunkte hinein:
ein gemobbter Ex-Kollege
ein neidischer Kollege
ein General aus Afghanistan
Sie fragte sich, wie Hauptkommissar Uttenreuther es schaffen konnte, alle Informationssplitter, die er bekam, im Kopf zu behalten. Vielleicht wendete er irgendeine amerikanische Gedächtnistechnik an. Ka-tinka seufzte. Es war dämlich gewesen, mit ihm zu streiten.
Die Schneeflocken zeichneten nasse runde Kreise aufs Papier. Sie sahen aus wie die Wellen, die ein Kieselstein erzeugt, wenn man ihn ins Wasser wirft. Sie stopfte das Buch in den Rucksack zurück und trat auf die eisglatte Fahrbahn. Ohne Vorwarnung wurde sie einmal um die eigenen Achse gewirbelt, stürzte zu Boden und stützte sich unwillkürlich mit der rechten Hand ab. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Handgelenk. Flashback. Ein gurgelnder Fluss. Ich bin hingerutscht, weil es glatt ist. Es ist nur glatt. Im Winter ist es nun mal glatt.
Sie atmete einige Male tief durch und rappelte sich auf. Die bevorstehende Rückfahrt nach Bamberg stieß ihr sauer auf. Bedachtsam setzte sie Fuß vor Fuß. Ich laufe wie ein Zombie, dachte sie.
Ein steiler Weg führte in den Hofgarten. Kaum hundert Meter von der Straße entfernt, wurde Katinka von der Dunkelheit verschluckt. Sie suchte die Taschenlampe aus dem Rucksack und bahnte sich einen Weg durch den Schnee. Im Verlauf des vergangenen Tages hatte jemand versucht, die Spazierwege zu räumen, aber von diesen Bemühungen war nichts geblieben als eine mühsam erkennbare Spur im Schnee und hier und da ein wenig Splitt. Sie sank tief ein, ihre Jeans wurden nass. Ab und zu rutschte sie aus und musste sich mit den Händen abstützen. Ihre Handschuhe durchweichten. Der dunkle Park lag einsam und völlig still da. Die perfekte Zeit für einen Mord, überlegte Katinka.
Sie fand schnell das Mausoleum des Herzogspaares. Es war kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte. Zwei poröse Sphinxen bewachten den Eingang, der Schnee setzte ihnen schmucke
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