Schockwelle
Kenntnisse einbrachte und die Beute gekonnt ausnahm und zerteilte. Die meisten Schiffbrüchigen hätten den Angelhaken einfach ins Meer gehängt und abgewartet. Giordino hingegen hielt sich nicht lange mit simplem Anlocken auf. Er bestückte den Haken mit leckeren Fleischbrocken, die er aus den Eingeweiden des Hais schnitt und denen seiner Ansicht nach kein Fisch widerstehen konnte, warf die Schnur aus wie ein Cowboy, der ein Kalb fangen will, ließ sie beim Einholen langsam über seinen Ellbogen und durch die Mulde zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten und gab ihr alle paar Meter einen leichten Ruck. Offenbar war er der Meinung, daß seine Beute sich durch einen vermeintlich lebenden Köder leichter zum Anbeißen verlocken ließ. Zu Recht, denn kurz darauf hatte er den ersten Fisch am Haken, einen Bonito.
Keine zehn Minuten später hatte Giordino den kleinen Thunfisch an Bord geholt.
In den Annalen der christlichen Seefahrt finden sich zahllose Geschichten über Schiffbrüchige, die inmitten einer von Fische n wimmelnden See verhungerten, weil sie nicht wußten, wie sie die Beute fangen sollten. Nicht so Giordino. Sobald er den richtigen Dreh heraushatte, verfeinerte er seine Methode immer mehr, bis er seinen Fang so geschickt und sicher einholte wie ein alter, erfahrener Fischer. Mit einem Netz hätte er vermutlich in wenigen Stunden das ganze Boot gefüllt. Im Wasser um und unter dem kleinen Boot wimmelte es wie in einem Aquarium.
Zahllose leuchtend gefärbte Fische jedweder Größe begleiteten die Ausgesetzten. Die kleinen kunterbunten Fische zogen größere an, die wiederum Haie anlockten, deren Leiber ab und zu bedrohlich gegen das kleine Boot stießen.
Gefährlich und anmutig zugleich glitten die Killer der Tiefe neben dem Boot auf und ab; ihre Dreiecksflossen schnitten wie Messer durch das Wasser. Die von Pilotfischen begleiteten Haie rollten sich auf die Seite, wenn sie unter das Boot tauchten, oder sie schwammen auf den Kämmen, wenn die Nußschale in ein Wellental tauchte, so daß sie mit ihren kalten, leblosen Katzenaugen auf ihre potentiellen Opfer herabstarrten. Pitt mußte an ein Gemälde von Winslow Homer denken, das in seinem Klassenzimmer in der Grundschule gehangen hatte.
Gulf Stream
hieß es, und es zeigte einen Schwarzen, der auf einer mastlosen Schaluppe inmitten eines Haifischschwarms dahintrieb, während im Hintergrund eine dunkle Wasserhose aufragte. Homer hatte damit den ungleichen Kampf zwischen Mensch und Naturgewalten darstellen wollen.
Sie ernährten sich hauptsächlich von rohem Fisch, den sie auskauten – eine bewährte, von Schiffbrüchigen und Seefahrern seit alters her angewandte Methode, um den Flüssigkeitsbedarf zu stillen – sowie von dem in Streifen geschnittenen und an der Sonne getrockneten Haifisch. Zwei stattliche fliegende Fische, die eines Nacht s an Bord sprangen, ergänzten ihren Speisezettel.
Der ölige Geschmack der frischen, rohen Fische entlockte ihnen nicht gerade Begeisterungsrufe, aber langfristig konnten sie so den quälenden Hunger und Durst stillen. Ihre leeren Mägen waren schon nach wenigen Bissen ruhig gestellt.
Darüber hinaus stieg alle paar Stunden jeweils einer von ihnen kurz ins Meer, während die anderen die Haie im Auge behielten.
Die jähe Abkühlung linderte die quälende Hitze durch die unbarmherzig brennende Sonne, und wenn sie sich anschließend mit ihrer nassen Kleidung unter die schützende Persenning legten, konnten sie auch der Austrocknungsgefahr entgegenwirken. Zudem spülten sie auf diese Weise immer wieder die Salzschicht ab, die sich nach kürzester Zeit auf ihrer Haut bildete.
Die Elemente erleichterten Pitt das Navigieren. Die aus den Roaring Forties blasenden Westwinde trieben sie stetig gen Osten. In dieselbe Richtung trug sie auch die Strömung. Ihre ungefähre Position bestimmte er anhand der Sonne und der Sterne sowie mit Hilfe eines Jakobsstabs, den er aus zwei vom Paddel abgespleißten Holzstücken bastelte.
Der Jakobsstab war ein bereits von den Seefahrern des Altertums ersonnenes Gerät zur Bestimmung der Breitengrade.
Man hielt den einen Stab ans Auge, verschob den senkrecht daran angebrachten Querstab, bis ein Ende genau den Abstand zwischen dem Horizont und der Sonne oder einem Stern abdeckte. Der Azimut ließ sich dann anhand der in den Stab geschnittenen Kerben ablesen. Sobald der Winkel feststand, konnte der Seefahrer auch ohne die entsprechenden Bezugstabellen den Breitengrad gissen, also grob
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