Schön scheußlich
verbessern hilft. Als Tiergruppe sind die Lemuren weit weniger gut untersucht als beispielsweise Schimpansen, Gorillas und Paviane.
Obwohl die Lemuren zu den Prosimiae oder Halbaffen gehören und im Hinblick auf Gehirn und Sozialleben als primitiver angesehen werden als die eigentlichen Affen, sind sie in ihrer Lebhaftigkeit bezaubernd. Manche gleichen ihren Gesichtern nach sonderbaren kleinen Mönchen, andere haben die unglaublich blauen Augen eines Paul Newman. Der Diademsifaka, ein schlanker Akrobat mit flaumiger Pelzkappe, hüpft in bedächtigen Seitwärtssprüngen von Ast zu Ast. Der fünfzehn Zentimeter große Mausmaki, dessen Aussehen seinem Namen alle Ehre macht, ist der kleinste Primat der Welt; die ausgestorbene Gattung Megaladapsis gehörte mit fast zwei Metern zu den größten.
Im bei der Aufzucht von Lemuren bislang erfreulich erfolgreichen Duke Center turnen auf fünfundzwanzig Hektar an Freigehegen mehr als vierhundert Repräsentanten von fünfzehn verschiedenen Arten durch die Wälder von North Carolina. Sie können sich zanken, jagen und paaren, ihre Jungen aufziehen, einander mit ihren kammähnlichen Gebissen lausen und in jeder Hinsicht auf Lemurenart unter Bedingungen leben, die denen der madagassischen Wildnis ganz ähnlich sind - außer dass die Freigehege von elektrischen Zäunen umgeben sind, die einem womöglich allzu wanderlustigen Lemuren einen leichten Schock versetzen. Von besonderem Interesse für den Primatologen ist die Tatsache, dass die Lemuren eine Art lebendes Fossil darstellen, ein Wesen, das durch den glücklichen Umstand seiner geografischen Isolation überlebt hat. Überall sonst sind die Lemuren ausgestorben. Sie wurden von den größeren und aggressiveren Affen und Menschenaffen verdrängt. Die Halbaffen aber, die vor etwa fünfzig Millionen Jahren vom afrikanischen Festland nach Madagaskar gekommen sind, indem sie auf Treibholz hinübergeschwemmt wurden, konnten ohne den Druck der höheren Affen, ja sogar ohne die Bedrohung durch größere Räuber gedeihen. Als wandernde, fühlende Fossilien vermitteln uns die Halbaffen Einblicke in die frühe Evolution des Sozialverhaltens bei unseren Primatenvorfahren.
Außerdem gehören die Lemuren zu der Handvoll Säugetiere, bei denen die Standardaufteilung der Geschlechterrollen vertauscht ist. Bei den meisten höheren Primaten sind die Männchen größer als die Weibchen und dominieren diese in vielen Fällen. Bei den Lemuren aber haben Weibchen und Männchen ungefähr die gleiche Größe, und bei ihren Auseinandersetzungen behält das Weibchen die Oberhand. Es entlockt dem Männchen unterwürfige Verhaltensmuster und verscheucht es, wenn es verärgert ist.
Welches Geschlecht auch vordergründig das Sagen hat, gegenwärtig hält kein Lemur sein Geschick selbst in der Hand, sondern sie alle sind auf das Gewissen Fremder angewiesen. Von allen gegenwärtig betriebenen Anstrengungen, Lemuren am Leben zu erhalten, ist keine so schwierig wie der Feldzug zur Rettung des Fingertiers. Dieser Primat leidet nicht nur genau wie alle anderen Lemuren unter einem fort schreitenden Verlust an Lebensraum, sondern er hat auch ein ernsthaftes Imageproblem, das ihn besonders verwundbar macht. Den meisten Lemuren zollen die Madagassen großen Respekt. Sie betrachten sie mit Zuneigung und nennen sie »die kleinen Menschen des Waldes«. Das Fingertier hat jedoch keinen Anteil an all den Freundlichkeiten. Es gilt als böses Omen, als Vorbote des Todes. Einer Legende zufolge ist derjenige, auf den das Aye-Aye mit seinem Mittelfinger deutet, dazu verdammt, bald einen schrecklichen Tod zu sterben. Um sich vor diesem Fluch zu schützen, töten viele Madagassen jedes Fingertier, das ihnen unter die Augen kommt, und befestigen das tote Tier auf einem Pflock an einer Wegkreuzung in der Hoffnung, dass ein Fremder vorbeigehen und das Unheil des Aye-Aye auf sich ziehen möge.
Die Tabus um das Aye-Aye durchdringen das Denken dermaßen, dass manche sogar glauben, der Primat, dessen wissenschaftlicher Name Daubentonia madagascariensis lautet, verdanke seinen Trivialnamen dem madagassischen Ausdruck für »Kenne ich nicht« - und spiegele damit wider, dass bereits die Erwähnung seines Namens Unglück bringt. Einer der Gründe, weshalb das Fingertier mit so viel Argwohn beäugt wird, ist seine fremdartige Erscheinung. Es gleicht keinem anderen Primaten auf der Erde; im achtzehnten Jahrhundert wurde es von französischen Forschern sogar zu den Eichhörnchen gezählt.
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