Schön scheußlich
Sein langes Fell schimmert in staubigem, abstoßendem Dunkelgrau, und im Dunkeln zeigen seine gelben Augen ein dämonisches Leuchten. Es läuft mit ruckartigen, aggressiven Bewegungen und sieht aus, als wolle es einem jeden Augenblick ins Gesicht springen. Auch hat es die gefährliche Angewohnheit, dem Menschen gegenüber Neugier zu zeigen, wodurch es für denjenigen, der es töten will, eine leichte Beute wird. Dass das Fingertier noch nicht vollständig ausgerottet ist, liegt vielleicht unter anderem an seiner Nachtaktivität. In den meisten madagassischen Dörfern fehlt es an Elektrizität, sodass die Menschen sich im Allgemeinen nach Sonnenuntergang, bevor sich das Fingertier auf Jagd begibt, in ihre Häuser zurückziehen.
Doch der Primat hat seine Reize. Sein Gehirn ist größer und gefurchter als das jedes anderen Halbaffen, was auf eine womöglich höhere Intelligenz schließen lässt. Sein Gehör ist so gut, dass es durch Klopfen auf einen Baumstamm Hohlräume aufspüren kann, in denen sich die von ihm so begehrten Käferlarven befinden. Mit seinen vier messerscharfen Vorderzähnen, die im Unterschied zu anderen Primaten ein Leben lang nachwachsen, nagt es dann ein Loch in den Stamm. Und dann ist da natürlich noch der außerordentlich auffällige Mittelfinger des Aye-Aye, ein langes, dünnes Gebilde, das in jede Richtung beweglich ist. Der Finger ist sein Allzweckwerkzeug zum Abklopfen von Baumstämmen, zum Eieranbohren, zum Herauslöffeln der Flüssigkeit aus den Eiern und um Milch aus Kokosnüssen zu ergattern.
Da Fingertiere Nachtgeschöpfe sind und die lange, nasse madagassische Regenzeit die meisten' Forscher abschreckt, sind diese Tiere nur wenig untersucht worden. Doch was man bislang weiß, weckt den Appetit auf mehr. Man hatte die Fingertiere lange für mehr oder weniger solitär lebende Tiere gehalten. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass sie in Wirklichkeit relativ sozial leben. Sie bauen große Schlafnester in Astgabeln und tauschen jede Nacht ihre Kojen miteinander. Ihr Liebesspiel folgt den Empfehlungen des Kamasutra. Wenn ein Weibchen paarungsbereit ist, hängt es sich mit dem Kopf nach unten an einen Ast. Das Männchen bringt sich in Position, indem es seine Beine um die Fesseln des Weibchens schlingt, sich seinerseits mit dem Kopf nach unten hängt und seine Angebetete um die Taille fasst, wobei das gesamte Gewicht vom Weibchen gehalten wird. Anschließend kopuliert das Pärchen für ein bis zwei Stunden weit länger als andere Primaten. Im Verlauf dieser baumelnden Kopulation klettern andere Männchen den Baum hinauf und versuchen, das erfolgreiche Männchen abzudrängen, um selbst zum Zuge zu kommen. Das Weibchen paart sich unter Umständen mit mehreren Partnern, bevor seine Brunst zu Ende ist. Die Trächtigkeitsdauer ist mit hundertvierzig Tagen eine der längsten bei den Lemuren.
Der neugeborene Lemur, den ich im Duke Center so locker gestreichelt hatte, war sechs Monate zuvor bei eben solcher Gymnastik in den madagassischen Wäldern empfangen worden. Seine Mutter wurde gefangen und nach North Carolina gebracht, wo sie auf drei andere Artgenossen traf. Falls die Fingertiere sich in Gefangenschaft erfolgreich fortpflanzen, wird das Primatenzentrum die Nachkommen an verschiedene amerikanische Zoos liefern. Der einzige Zoo der westlichen Hemisphäre, in dem es gegenwärtig Aye-Ayes zu betrachten gibt, ist der Pariser Zoo.
Eine langfristige Strategie für die Primaten von Madagaskar zu entwickeln wird sich weit schwieriger gestalten. Seit die ersten indonesischen Siedler vor fünfzehnhundert Jahren auf der Insel anlangten, sind fünfundachtzig Prozent ihrer spektakulären tropischen Regenwälder vom Menschen als Feuer-und Bauholz gefällt oder abgebrannt worden. Das dünne Erdreich auf der Insel ist der Erosion schutzlos preisgegeben und hat einen Großteil seiner Nährstoffe eingebüßt, sodass die verbliebenen Wälder ebenfalls bedroht sind. Die madagassische Bevölkerung nimmt nach wie vor mit 2,5 Prozent jährlich zu; das ist eine der höchsten Zuwachsraten der Welt.
International herrscht inzwischen eine sehr große Bereitschaft, Madagaskar und seine Fülle von Lebensformen zu retten - Lebensformen, die nirgends sonst zu finden sind, unter anderem 142 Arten von Fröschen, 102 Vogelarten und 6000 Blütenpflanzen sowie die Hälfte des Weltbestandes an Chamäleons. Doch ob der Artenreichtum erhalten werden kann, wenn so viele Madagassen in Armut leben müssen, und ob die Menschen
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