Schöne Scheine
Wind schützen. Man konnte sie dazu verwenden, ein Feuer zu entzünden. Anspruchsvollen Zeitgenossen ersparte sie es, für gewisse Zwecke Tag für Tag auf Ampfer, Klette oder andere breitblättrige Pflanzen zurückgreifen zu müssen. Und zur Not konnte man sie sogar noch lesen.
An diesem Abend frischte der Wind auf. Der Mann überflog die Titelseite der Zeitung und steckte sie sich dann unters Unterhemd.
Seine Zähne versuchten ihm etwas zu sagen, aber er hörte nie auf sie. Man konnte im Wahnsinn enden, wenn man auf seine Zähne hörte.
Als er zum Postamt zurückgekehrt war, schlug Feucht die Familie Üppig im Wer mit wem nach. Sie gehörte tatsächlich dem alten Geldadel an, was bedeutete, dass sie vor so langer Zeit zu Geld gekommen war, dass die dunklen Machenschaften, mit denen sie ihre Geldsäcke gefüllt hatte, längst verjährt waren. Es war schon komisch: Wer einen Banditen als Vater hatte, kehrte ihn unter den Teppich, aber ein Pirat und Sklavenjäger als Urururgroßvater war etwas, womit man prahlte. Die Zeit verwandelte die bösen Verbrecher in Spitzbuben, und »Spitzbube« war ein Wort, das man mit einem Augenzwinkern sagte und wofür sich niemand schämte.
Sie waren schon seit vielen Jahrhunderten reich. Die Schlüsselfiguren in der aktuellen Üppig-Generation waren neben Tüppi zunächst ihr Schwager Marko Üppig und seine Frau Capricia, die Tochter eines berühmten Treuhandverwalters. Sie lebten in Gennua, so weit wie möglich von den anderen Üppigs entfernt, was recht Üppig-typisch war. Dann gab es noch die Stiefkinder von Tüppi, die Zwillinge Cosmo und Pucci, die, wie man sich erzählte, sich gegenseitig mit den kleinen Händen die Kehle zudrückten, als sie auf die Welt kamen, ganz wie wahre Üppigs. Außerdem gab es noch zahlreiche weitere Cousins und Cousinen, Tanten und genetische Anhängsel, die sich alle gegenseitig wie Katzen belauerten. Nach dem, was er gehört hatte, tummelten sich die Familienmitglieder traditionell im Bankgeschäft, doch die jüngeren Generationen hatten sich auf dem komplexen Fundament langfristiger Investitionen und uralten Treuhandvermögens darauf verlegt, sich gegenseitig zu enterben und zu verklagen, offensichtlich mit großer Begeisterung und einem löblichen Mangel an Gnade. Er erinnerte sich an Bilder, die er auf den Klatschseiten der Times gesehen hatte, wie sie schnittige schwarze Kutschen bestiegen oder ihnen entstiegen, ohne allzu viel zu lächeln, damit sich das Geld nicht davonmachen konnte.
Tüppis Familienzweig wurde nicht erwähnt. Offenbar war der Name Dylea nicht groß genug, um ins Wer mit Wem auf genommen zu werden. Tüppi Dylea ... irgendwie klang das eher nach Variete, und Feucht konnte sich das sogar recht gut vorstellen.
Feuchts Eingangskorb hatte sich während seiner Abwesenheit gut gefüllt. Alles ziemlich unwichtiges Zeug, und er musste sich um kaum etwas wirklich kümmern, aber an dem ganzen Ärger war nur dieses neumodische Kohlepapier schuld. Er bekam Kopien von allem Möglichen, und das beanspruchte seine Zeit.
Nicht, dass er Probleme mit dem Delegieren hatte. Darin war er sogar ziemlich gut. Doch damit diese Fähigkeit tatsächlich etwas nützte, mussten sich am anderen Ende der Kette Leute befinden, die dazu taugten, dass man etwas an sie delegierte. Was sie aber nicht taten. Das Postamt hatte etwas an sich, das eigenständiges Denken verhinderte. Die Briefe gehörten in die Schlitze, alles klar? Hier war kein Platz für Leute, die damit experimentieren wollten, sie sich ins Ohr zu stecken oder in den Schornstein oder in den Abort. Es wäre gut für sie, wenn sie ...
Zwischen dem übrigen Zeug entdeckte er die dünnen rosafarbenen Blätter mit Klackerbotschaften und zog sie eilig hervor.
Die Nachricht kam von Spike!
Er las:
Erfolg. Kehre übermorgen zurück. Alles wird ans Licht kommen. S.
Feucht legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Offenbar vermisste sie ihn sehr und wollte ihn unbedingt Wiedersehen, aber sie war sehr knauserig, wenn es darum ging, Geld der Golem-Stiftung auszugeben. Und wahrscheinlich waren ihr auch die Zigaretten ausgegangen.
Feucht trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Vor einem Jahr hatte er Adora Belle Liebherz gefragt, ob sie seine Ehefrau werden wollte, und sie hatte ihm erklärt, dass er vielmehr ihr Ehemann sein würde.
Es würde noch ... ja, es würde bestimmt noch einige Zeit dauern, bis Frau Liebherz schließlich die Geduld mit dem übervollen Terminkalender ihrer Tochter
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