Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
Vom Netzwerk:
versuchen?«
    Das hatte ich wirklich! Als Barry Mazur meine Einladung in die Wege leitete, konnte er sich keine Vorstellung davon gemacht haben, was er da in Bewegung setzte. Doch im Jahr 1978/79 sollte mein jüngerer Sohn Didier die letzte Klasse der High School besuchen, weshalb wir da nicht umziehen konnten. Also einigten wir uns auf 1979/80. Wie sich zeigen sollte, ging Didier dann nach Harvard, und so zogen wir gemeinsam nach Cambridge.

Physik in gebrochenen Dimensionen
    In jenem Herbst hatte ich Zeit, Forschung zu betreiben. Das ermöglichte es mir, mit dem Physiker Amnon Aharony von der Universität Tel Aviv, der als Gast zu IBM in Yorktown gekommen war, eine Zusammenarbeit zu beginnen, die sich langfristig fortsetzen sollte.
    Ich hörte mir mehrere seiner Vorträge an. Einmal machte ich anschließend einige Anmerkungen. »Wissen Sie was«, erwiderte er, »Sie könnten recht haben. Diese verrückte mathematische Idee von Formen fraktaler Dimension könnte sehr wohl nutzbringend auf meine Art der Physik ausgeweitet werden. Wir müssen zusammenarbeiten und uns das genauer ansehen.«
    Wir fingen also an und arbeiteten eng zusammen, zunächst in Harvard während jenes wunderbaren Jahres und später über viele Jahre hinweg an vielen Orten. Wir untersuchten die Anwendung von Formen fraktaler Dimension. Die meisten unserer Aufsätze betrafen Räume, deren Dimension nicht ganzzahlige 1, 2, 3 oder höher waren, sondern ein Bruch, und wir brachten Fraktale näher an die Hauptströmung der statistischen Physik heran.
    Unabhängig voneinander machte sich diese Vorstellung in der Mathematik und in der Physik breit, und jede Disziplin reagierte auf ihre eigene Weise. Mathematiker boten viele Definitionen an, während Physiker heuristisch vorgingen und fragten, ob die Berechnung vorhergesagt hatte, was sie beobachteten – der Beweis lag nicht im Rezept, sondern im Pudding. In dieser Kooperation kam es auf die Fähigkeiten aller Beteiligten an, und das Resultat »roch vielversprechend« – obwohl es nicht endgültig war.

Ein großes altes Problem – eingefroren in der Zeit
    Wie kam die Mandelbrot-Menge zustande und warum provozierte sie eine so heftige Reaktion? Im Grunde habe ich das einer Herausforderung zu verdanken, die ich als Student in den 1940er-Jahren von Onkel Szolem geerbt habe.
    »Eines der ältesten, simpelsten und größten Probleme der gesamten reinen Mathematik erreichte vor Jahrzehnten mit Pierre Fatou und deinem Lehrer Gaston Julia einen Höhepunkt. Dann kam ihre Arbeit – wegen mangelnder neuer Fragen – quietschend zum Stehen. Sie darf nicht in der Erstarrung belassen werden. Ich selbst habe mich mehrfach und angestrengt daran versucht, bin aber jedes Mal gescheitert. Ein Vierteljahrhundert lang sind alle, die es probiert haben, auf die Nase gefallen. Sieh zu, was du tun kannst. Hier sind Nachdrucke alter Aufsätze. Halte sie in Ehren, denn sie sind selten und ziemlich wertvoll.«
    Ich nahm Szolems Rat und die Papiere an; ich hoffte, Julius Cäsar imitieren und ihm berichten zu können, dass ich kam, sah und siegte. Ich kam, sah aber nichts, das ich voranbringen konnte. Genau wie Szolem und alle anderen suchte ich nach Fragen, die neu genug waren und zugleich eine ausreichend gute Chance boten, beantwortet zu werden. Auch ich scheiterte.
    Schon früh im Leben hatte ich gelernt, die höchste Erfüllung (»Nirwana«) sei es, ein seit Langem formuliertes, aber bislang ungelöstes Problem zu lösen. Auch hatte ich erfahren, dass ein mathematisches Problem durchaus ausformuliert sein, aber trotzdem – sogar für Jahrhunderte – ungelöst bleiben kann, während ein ganzes Gebiet sich weiterentwickelt und dieses Problem einfach umgeht. Und aufgrund von Lektüre und Lehrmaterial begriff ich, dass ein Gebiet aus Mangel an handhabbaren und interessanten Fragen zugrunde gehen kann. All das bot jedoch nur schwachen Trost.
    Wie ich es heute sehe, ist die Weiterführung der Arbeit von Julia und Fatou deshalb so gründlich gescheitert, weil die fehlende Zutat nicht bloß ein besserer oder klügerer Blick auf die damals vorhandene Mathematik sein konnte. Vor allem war die Macht zwischen 1910 und 1950 allmählich auf die Freunde von André Weil übergegangen, also auf die Mitglieder von Bourbaki, die sich ziemlich vorsätzlich auf ganz andere Probleme eingestellt hatten. Als ich dann 1953/54 am Institute for Advanced Study in Princeton war, begann sich eine weitere entscheidende Zutat durchzusetzen. Mein

Weitere Kostenlose Bücher