Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
erstes in der mathematischen Fakultät – dieser Aufenthalt unterschied sich ziemlich von den früheren. Den Mathematikern wurde eine neue Welt enthüllt … oder vielleicht wurde auch eine ältere Welt mühevoll wiederbelebt.
© Peter Moldave
Tag um Tag waren Kollegen, Studenten und Passanten Zeugen eines sich langsam entfaltenden Vorgangs – so etwas hatte ich noch nie durchgemacht, und die Gemeinschaft reiner Mathematiker in Harvard hatte es seit Jahren nicht erlebt und nicht im Mindesten erwartet. Auf mich wirkte der Vorgang berauschend. Für Mathematiker war er bestenfalls verblüffend und in vielen Fällen nicht willkommen oder noch schlimmer. Der Prozess bestand in einer allmählichen Verwandlung; es begann mit fast bedeutungslosen Tintenklecksen, die zunächst zu groben und dann zunehmend zu präziseren Beobachtungen wurden. Am Ende standen – soweit ich betroffen bin – voll ausformulierte mathematische Vermutungen. Die dabei entstandenen Bilder waren erstaunlich.
© Peter Moldave
Diese Abbildungen waren faszinierende Objekte, die ich damals λ (Lambda) und μ (My-Ma) nannte – es waren alternative Möglichkeiten, eine grundlegend neue mathematische Struktur darzustellen, die als Mandelbrot-Menge bekannt wurde. Man hat sie als das komplexeste Objekt der Mathematik bezeichnet; sie ist zum Gegenstand volkstümlicher Betrachtung geworden und nach wie vor mein bester und bekanntester Beitrag zum Wissen.
Ich konnte nur die einfachsten Vermutungen beweisen und wusste, ich würde nicht allein imstande sein, auch die schwierigeren zu »knacken«, sodass ich sie aufgeben musste, während ich mich ständig beklagte und lautstark nach einem vollständigen und strengen Beweis rief. Fähige Mathematiker in Harvard und Paris wurden informiert; sie kamen bald zusammen und bewiesen wenig später einige meiner und viele ihrer eigenen Vermutungen. Während Jahrzehnte vergingen, gesellten sich zu meinen Vermutungen viele weitere, und etliche sind auf exquisite Weise bewiesen worden. Meine erste zentrale Vermutung ist neu formuliert worden, hat aber die Suche vieler Experten nach einem Beweis überlebt und bleibt mit Stolz offen.
Heute – dreißig Jahre nach jenen Ereignissen – strahlt der Zweig der Mathematik, der durch meine Vermutungen wieder zum Leben erweckt wurde, weiterhin in hellem Glanz.
Ein Mittagessen, das ein Leben verändert
Wie hat sich das alles entwickelt? Mitte der 1970er-Jahre traf ich oft mit Stephen Jay Gould (1941–2002) zusammen, einem lebhaften Paläontologen mit einer Vielzahl von Berufungen in Harvard. Ganz unabhängig voneinander waren wir zu herausragenden Verfechtern der Diskontinuität geworden – er in der Paläontologie, ich bei den Schwankungen der Finanzkurse. Anfang 1977 besuchte ich Boston und rief ihn an, um mich zu erkundigen, ob er Zeit für ein gemeinsames Mittagessen habe. Er hatte, und so vereinbarten wir ein Treffen.
Er erschien mit einem befreundeten Mathematiker von Harvard, dem Zahlentheoretiker Barry Mazur. Barry besuchte häufig Paris, sprach fließend Französisch und hatte mein Buch Les o bjets fractals von 1975 mit Begeisterung gelesen. Ich konnte ihm die brandneue erweiterte englische Ausgabe von 1977 (Fractals) zeigen. Unsere lebhafte Unterhaltung mussten wir wegen unserer jeweiligen Terminpläne abbrechen. Es war ein Freitag, und Barry lud mich für den nächsten Tag zu einem Brunch bei ihm zu Hause ein. Wer hätte da ablehnen wollen?
Am folgenden Tag quetschte mich Barry über zwei meiner Themen aus. Eines bezog sich auf meine intimen Kenntnisse der Originalaufsätze und Bücher aus der Frühzeit der reellen Analysis – jener Periode um 1900, als man sie als Ansammlung diverser mathematischer »Pathologien« ansah; in meinem Denken waren es Spielzeuge gewesen. Der zweite Gegenstand bestand in der schon erheblichen Vielfalt von Fällen, in denen ich ein solches Spielzeug in ein Werkzeug verwandelt hatte. Im Lauf unseres Gesprächs sagte Barry: »Wissen Sie, in unserer Fakultät gäbe das einen wundervollen Kurs ab. Der gegenwärtige Kurs in reeller Analysis ist so glatt und stromlinienförmig geworden, dass die Konzepte wie aus dem Nichts zu kommen scheinen und mit keinerlei Begründung verbunden sind. Ich hatte an einen Parallelkurs gedacht, der die Lücken ausfüllt, kenne aber die Geschichte nicht so gut und könnte mir noch nicht einmal eine reale Anwendung vorstellen. Auch sonst war niemand dazu in der Lage. Hätten Sie Interesse, das zu
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