Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
nicht das Gefühl, die Mandelbrot-Menge »erfunden« zu haben: Wie alles in der Mathematik ist sie immer schon dagewesen, doch mein spezieller Lebensweg hat mich zur rechten Zeit zum rechten Mann am rechten Ort werden lassen. Zudem hat er mir das Privileg eingebracht, dieses Objekt als Erster inspizieren zu dürfen, viele Fragen dazu zu formulieren und viele Antworten zu vermuten. Obwohl man es zuvor nicht gesehen hatte, hatte ich sehr stark das Gefühl, dass es existierte, aber verborgen blieb, weil niemand die Einsicht besaß, es ausfindig zu machen.
Zoomt man an einem Punkt des Kreisumfangs, verschwindet die Krümmung allmählich, und das Ergebnis gleicht immer mehr einer Geraden. Man zoome dagegen an einem Grenzpunkt der Mandelbrot-Menge: Was man sieht, wird immer noch schöner, wilder, barocker und komplexer – in vielfältigster Weise, wie einige der Abbildungen im letzten Kapitel des Buchs zeigen. Ich habe gehört, wie man das als »hübsch – aber auch »hübsch nutzlos« bezeichnet hat. Es erfordert Zeit, bis wichtige Anwendungen neuer Entdeckungen enthüllt werden, und wie wir gesehen haben, besitzt die Mandelbrot-Menge starke Eigenschaften, um diesen Anspruch einlösen zu können. Man denkt an Napoleon Bonapartes Spruch, wonach ein Bild mehr als tausend Worte sagt, oder gar an die Bibelstelle »Es werde Licht, und es ward Licht«. Mittlerweile sollte mich das eigentlich kalt lassen, ich hoffe aber, dass das nie der Fall sein wird. Mit angemessener Demut kann ich sagen, dass die folgenden magischen Worte von Charles Darwin auf diese Menge anwendbar sind:
[Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass … ] aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.
Mit dieser mathematischen Menge habe ich mehr oder weniger aktiv 30 Jahre lang gelebt – und hätte es spannend gefunden, noch weit länger damit zu leben, wenn der Erfolg nicht zu viele andere Suchende anziehen würde.
Ein erster Hinweis auf die Mandelbrot-Menge an der Academy of Sciences in New York
Gegen Ende der 1970er-Jahre war die mathematische Chaostheorie ein heißes Thema und zentraler Gegenstand einer großen Konferenz über nichtlineare Dynamik, die 1979 an der New Yorker Academy of Sciences abgehalten wurde. Die Mandelbrot-Menge hatte ich noch nicht entdeckt, redete aber über meine Arbeit zum Thema Iteration, als diese entscheidende Periode schon fast erreicht war. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Ahnung von der großen spektakulären Diashow zu vermitteln, die ich bald um die ganze Welt tragen sollte.
Das Publikum war überwältigt, und es gab nur wenige Fragen. Aber es kam zu einem unvergesslichen Nachspiel. Es war die letzte Sitzung des Tages gewesen, und mein IBM-Kollege und Freund Martin Gutzwiller bat mich – zu meiner freudigen Überraschung –, diese Bilder noch einmal zu zeigen. Der größte Teil des Publikums blieb für diese Wiederholung im Saal. Das Buch mit den Beiträgen jener Tagung wurde zu einer wichtigen Referenz. Als ich an der Reihe war, meinen Beitrag zu liefern, reichte ich stattdessen die erste Mitteilung der entscheidenden Fakten zur Mandelbrot-Menge ein. Die Ankündigung umfasste auch mehrere dieser frühen Bilder. Ich war besorgt, dass der Drucker die Abbildungen vielleicht für Schmutzflecken halten könnte, und fügte deshalb folgende Anweisung an: »Die Schmutzflecken bitte nicht entfernen. Sie sind real und wichtig.«
Den unveränderten Vortrag hielt ich auch in Harvard, wo zu diesem Zeitpunkt eine Form der mathematischen Physik Gegenstand breiten und zunehmenden Interesses war. Die letzte von vielen Fragen stellte David Mumford, ein Vertreter der algebraischen Geometrie, Laureat der Fields-Medaille, Mathematik-Professor in Harvard, Kollege und freundlicher Gastgeber, dem ich hier meinen Dank aussprechen möchte. »Könnte genau dieser Ansatz nicht auch einen schnellen Algorithmus für Klein’sche Grenzmengen nach sich ziehen?« Danach hatten seit 100 Jahren viele Mathematiker, darunter auch große, gesucht – und wahrscheinlich auch unzählige Amateure. Erstaunlich, aber wahr (und angesichts der Schlichtheit der »Trophäe« fast schon peinlich): All diese Suchenden waren gescheitert.
David fragte, ob ich mich auch um Klein’sche Grenzmengen kümmern könne. Erfreut erwiderte ich, ich hätte in der Tat – zumindest für einen sehr wichtigen Spezialfall – eine Konstruktion gefunden, und zeigte ihm
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