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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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steht.
    Léon und ich waren im Sommer 1937, als das Haus ganz neu war, für einen Monat Szolems Gäste, dann wieder 1938 und 1939. Unser erster Besuch ist mir besonders lebhaft in Erinnerung geblieben, weil die reizende Tante Gladys ihren Neffen anständige Tischmanieren beibringen musste.
    Als der Krieg ausbrach, bestand Szolem darauf, wie jedermann behandelt zu werden; er lehnte eine seiner Professur am Collège de France, wo er inzwischen war, angemessene Schreibtischstelle ab und wurde stattdessen als Gefreiter zu einer Flugabwehreinheit eingezogen. Er, Tante Gladys und ihr Sohn Jacques zogen nach Tulle – in die Nähe der Eyrolles, wo es eine höhere Schule gab. Léon und ich folgten ihnen kurze Zeit später nach. Kurz vor dem Fall von Paris im Juni 1940 kamen unsere Eltern zu uns nach Tulle – mit mageren Ersparnissen, da Vaters gewitzterer Geschäftspartner mit der Geldkassette und dem Bankguthaben abgehauen war.
    Pierre und Louise Eyrolle waren wie ein Schutzschild für uns. Viel später erfuhren wir, wie ihnen das gelungen war. Sie waren tief in der örtlichen Gemeinschaft verwurzelt und hatten Zugang zu den einheimischen Honoratioren – einschließlich eines mächtigen politischen Führers, den ich nie kennenlernte. Der unverwüstliche Henri Queuille (1884–1970) war anscheinend in jeder französischen Vorkriegsregierung Minister gewesen; doch 1943 griff die deutsche Besatzung auf das Frankreich der Vichy-Regierung über, und Queuille konnte nicht mehr helfen. Nach 1945 gelang ihm ein kurzes Comeback als Premierminister.
    Die Eyrolles sind stets sehr enge Freunde geblieben. Mehr als 50 Jahre später war ich 1992 Ehrengast einer Hundertjahrfeier des Gymnasiums in Tulle. Yvonne (Nini) Eyrolle Péchadre, eine pensionierte Lehrerin, war die Letzte des Familienclans. Aliette und ich – samt Bruder Léon und seiner Frau Nicole – statteten dem Haus der Eyrolles einen höchst emotionalen Besuch ab. Über diese wirklich großartige alte Dame bedankten wir uns erneut und zum letzen Mal bei allen Eyrolles für ihre lebendige Freundschaft und ihre Tapferkeit. Danke auf ewig!
    Als Frankreich im Juni 1940 besiegt war, wurde Szolem in Tulle demobilisiert. Bald darauf ging er mit der Familie ans Rice Institute – heute eine Universität – in Houston, Texas. Nach seiner Promotion hatte er dort ein Jahr zugebracht, und man lud ihn ein, dorthin zurückzukommen.
    Der Vermittler seiner Abreise war der bemerkenswerte Louis Rapkine (1904–1948). Er hatte am Pasteur-Institut in Paris gearbeitet und kannte die französische Szene deshalb sehr gut. Er war jedoch kanadischer Staatsangehöriger, weshalb er frei reisen konnte. Er hatte mitbekommen, wie Liberale, Juden und ihre Frauen oder Gatten von Hitler aus Deutschland vertrieben wurden, und so wurden Netzwerke aufgebaut, um im Westen neue Jobs zu schaffen. Fast im Alleingang – allerdings mit Unterstützung eines Mitglieds des Rothschild-Clans – half er vielen, die in Frankreich plötzlich gefährdet waren. Dazu gehörte auch Jacques Hadamard. 1948 kamen fast alle zurück, und die Erneuerung der französischen Wissenschaft wurde in großem Ausmaß durch die Hartnäckigkeit und den Einfallsreichtum eines Ausländers befördert, der seine Privilegien hatte nutzen können.
    Als Szolems Familie vor der USA-Reise kam, um auf Wiedersehen zu sagen, fragten sich alle im Stillen, ob es nicht in Wahrheit ein Adieu für immer sein würde.

Leben in Tulle
    Man fand eine überaus billige Behausung im obersten Stock eines kleinen Hauses auf einem ebenen Grundstück unten am Fluss in der Nähe der Waffenfabrik. Die Flüchtlingswohlfahrt steuerte eine sehr schlichte Grundmöblierung bei. Léon und ich schliefen in der vollgestellten Küche, die gleichzeitig als Esszimmer diente. Das Zimmer der Eltern wurde über eine offene Tür geheizt und über drei aus vergipstem Stroh bestehende, den unerbittlichen Elementen ausgelieferte Wände gekühlt. Im Winter sah man dort Eiszapfen. Im Erdgeschoss befand sich eine »türkische« Toilette, im vorderen Zimmer ein Kaltwasserhahn, und es gab – selbstredend – kein Badezimmer.
    Dort richteten wir uns in einem Leben äußerster Kargheit ein. Es wurde mit jenem Maß an Einfallsreichtum verwaltet, das meine brillanten und unbeugsamen Eltern mit ihren reichen Erfahrungen aus früheren Katastrophen aufbieten konnten, wenn sie zur Untätigkeit gezwungen waren. In Mutter erwachten Reflexe, die sie in früheren Perioden großer Armut erworben hatte.

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