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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Unterbrechungen bezeichnet – sie kommen sowohl in der Natur als auch auf den Finanzmärkten vor.

Die Appalachen Frankreichs
    Als jemand, der vor allem in Großstädten (Warschau und Paris) aufgewachsen ist, hatte mich ein Sommer im Weiler Połoczanka im Alter von zehn Jahren stark beeindruckt. Weit stärker wirkten dann vier Jahre in Tulle im Südteil des Limousin, dem eiförmigen Departement Corrèze.
    Überlebt habe ich zum einen wegen der ständigen Hilfe von Freunden und dank der stillschweigenden Komplizenschaft der »Tullois« oder »Tullistes«. Die Einwohner von Tulle stehen in dem Ruf, gegenüber Fremden – Pariser und die meisten anderen Franzosen eingeschlossen – unfreundlich zu sein. Als jedoch die Mauer des Misstrauens erst einmal durchbrochen war, wurden sie zu höchst großzügigen Gastgebern, und sie halfen uns, den Krieg zu überleben.
    Im Dialekt des Limousin entspricht das Wort »corrèze« dem normalen französischen »coureuse« (Läuferin) und steht für einen Gebirgsbach. Ein wenig verwirrend ist, dass es auch einen kleinen Ort flussaufwärts von Tulle und einen etwas abseits davon gelegenen Bahnhof bezeichnet. Von den Einwohnern wird Tulle die Stadt der sieben Hügel genannt – keiner weniger als in Rom oder Paris –, doch korrekter beschreibt man den Ort, wenn man ihn auf dem Grund und den Seiten eines sehr langen, gewundenen und tiefen Tals mit mehreren Verzweigungen ansiedelt. Viele Straßen verlaufen geradewegs bergauf, und bei nicht wenigen finden sich endlose und berüchtigte Treppen in Stein oder Beton. Der Vorteil: Einer Legende zufolge haben die Mädchen in Tulle schöne Beine, schöner als bei der Lieblingsrivalin im Städtewettbewerb, der wohlhabenden Gemeinde Brive-la-Gaillarde in der weiten Ebene der Corrèze weiter flussabwärts. »Gaillarde« bedeutet »froh, wohlsituiert«, im Gegensatz zu »Tulle-la-Paillarde« – die Arme, die auf Stroh schläft [1] .

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Die nüchterne Kathedrale Saint-Martin steht auf dem mehr oder weniger ebenen Stückchen Land, wo ein weiterer Bach in die Corrèze mündet. Einige Abschnitte gehen auf die Romanik des frühen Mittelalters zurück, insgesamt zog sich der Bau jedoch über viele Jahrhunderte hin. Auch das umliegende Gebiet wird als mittelalterlich bezeichnet, doch die meisten Privathäuser dürften aus dem 17.Jahrhundert stammen.
    Der Bahnhof von Tulle, flussabwärts der Kathedrale gelegen, wurde zwischen den Fluss und die Hügel eingepasst. Der »Tortillard«, ein kleiner Zug, der Bordeaux mit Clermont-Ferrand verbindet, folgt der Corrèze, solange es geht, macht dann einen großen Bogen und führt in engen Windungen einen steilen Hügel hinauf. Das kleine, ebene Gelände nächst dem Bahnhof belegte zum größten Teil eine Waffenfabrik, die man bereits im 17.Jahrhundert errichtet hatte, um die reichlich verfügbare Wasserkraft zu nutzen.
    Wir wohnten in der Nähe der Fabrik. In der sommerlichen Hitze des Talgrunds war der zum Schwimmen geeignete Flussabschnitt sehr attraktiv, doch von der Kathedrale aus war es ein weiter Weg flussaufwärts, selbst als wir verbeulte Fahrräder geschnorrt hatten.

Was hat uns in die Nähe von Tulle gebracht?
    Wie so oft handelte das Schicksal durch Szolem, der seine erste reguläre Professorenstelle an der Universität von Clermont-Ferrand erhalten hatte. Das Spiel um Universitätsposten nach Art der »Reise nach Jerusalem« hätte Szolem genauso gut in attraktivere Gebiete – die Normandie, nach Flandern oder ins Elsass – verschlagen können, mit unabsehbaren negativen Folgen, da diese reichen Provinzen von den Deutschen besetzt wurden.
    In Clermont-Ferrand freundeten Tante Gladys und Szolem sich mit einer Kollegin an: Lucie Eyrolle, genannt Eyrollette, stellte sie ihren Eltern Pierre und Louise vor, die harte Arbeit und den Geist der Selbstverwirklichung verehrten.
    In der Nähe der Bahnstation Corrèze, dem zweiten Halt nach Tulle, hatten die Eyrolles für Szolem ein größtenteils mit Schilf bestandenes und deshalb billiges Grundstück aufgetan und dazu einen unterbeschäftigten Architekten, der stolz darauf war, für einen Universitätsprofessor zu arbeiten. Er verlangte kein Geld für die Überwachung der Baufirma und die Anpassung des schachtelähnlichen Entwurfs – sehr phantasielos, aber für Bewohner eines Elendsviertels der schiere Luxus. Die Bevölkerung nannte das Haus la maison du chavant, was im Dialekt des Limousin für »das Haus des Gelehrten«

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