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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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eilten nach Hause, um die Neuigkeit mitzuteilen. Unsere Eltern sahen uns kommen, und Vater rief vom Fenster im Flur des zweiten Stocks: »Wie ist es gelaufen?« »Prädikat Sehr gut.« Wie ein Echo kam seine Antwort: »Sehr gut.«
    Ich hatte mich wie erwartet geschlagen. Keine nachträgliche Erörterung, keine formelle Feier. Man verlor kein Wort mehr darüber. Doch ich erinnere mich lebhaft an einen Anflug des Bedauerns, gemischt mit der Erkenntnis, dass wir einander vollkommen verstanden, und das geht mir zu Herzen. Ich sah meine Eltern nie feiern. Vielleicht hatten sie vergessen, wie das geht, und ganz gewiss haben sie mich nie etwas in dieser Richtung gelehrt.
    Zweifellos ging Vater insgeheim herum und stellte sicher, dass jeder, der vielleicht eine Rolle spielen konnte, mitbekam, welch besonderer Fall ich sei. Er hatte sich angewöhnt, allen Leuten eine Aussage des Mathematikers Henri Poincaré vorzutragen, wonach auf den meisten Gebieten jeder zum Experten ausgebildet werden könne, während man zum Mathematiker geboren sein müsse. Die Zeiten waren hart, und dies war keine Angeberei, sondern eine Frage des Überlebens. Vater muss sich gedacht haben, dass es schlecht sei, übermäßig aufzufallen, aber äußerst vorteilhaft, als sehr ungewöhnlich angesehen zu werden. Diese Einstellung, die er möglicherweise aus Warschau mitgebracht hatte, sorgte bei mir für hohes Engagement und großen Ehrgeiz.
    Ein Vorteil, den wir uns wegen dieses Summa erhoffen konnten, war unmittelbar und krass: eine höhere Überlebenschance. Man hatte ein neues Ass im Ärmel, und nun kam es allein darauf an, wie es uns in dem vergessenen kleinen Tulle helfen konnte. Für Szolem war die Nähe Tulles zur Universität Clermont-Ferrand der größte Trumpf gewesen, und ich hätte das Quotensystem überwinden können. Doch es war zu weit weg, es war zu gefährlich und zu teuer.

Lebenslange Freundschaft mit Pierre Roubinet
    Pierre Roubinet und ich wurden Ende 1939 in Tulle Klassenkameraden. Ich weiß noch genau, wie wir uns begegneten. Die Gebäude des Lycée Edmond Perrier waren in ein Feldlazarett umgewandelt worden, und unsere Klasse fand in den zufällig verfügbaren Räumen einer kurz davor aufgegebenen Pfarreischule Zuflucht. Am ersten Schultag kam der leicht als Neuling erkennbare Pierre auf mich zu, und wir begannen miteinander zu reden. Wie ich bald herausfand, kam dieser neue Klassenkamerad aus einer katholischen Schule, die sich die letzten Klassen nicht leisten konnte und keine Angst hatte, ihre ehrgeizigen Absolventen auf das weltanschaulich neutrale staatliche Gymnasium zu schicken. Für eine unserer ersten Diskussionen schlugen wir die Geschichte der Französischen Revolution in den Lehrbüchern nach, die unsere jeweiligen Schulen in der vorigen Klasse verwendet hatten. Die Darstellungen schienen sich auf völlig verschiedene Ereignisse oder Länder zu beziehen.
    Pierre und ich gehörten religiösen Stammesgemeinschaften an, die einander nur dem Ruf nach kannten – einem zunächst sehr schlechten Ruf. Aber kaum hatten wir zu plaudern begonnen, spielte diese Reputation keine Rolle mehr. Wir wurden enge Freunde, und jeder von uns nimmt nach wie vor einen Umweg in Kauf, um den anderen zu besuchen, wann immer das möglich ist. Außerdem halten wir telefonisch Kontakt. Hier ist ein Bild von Pierre auf der linken Seite, mir und Léon in Tulle.
    Als wir erwachsen wurden und Familien hatten, bezog die Freundschaft auch seine Frau Claude und meine Frau Aliette ein. Sein ältester Sohn Martin und mein ältester Sohn Laurent haben diese Freundschaft geerbt. Auf einer gemeinsamen Fahrradtour machten sie eine Pause, um zu schwimmen, und Laurent musste mitansehen, wie Martin von einem Motorboot getötet wurde. Ihr tiefer und ernster katholischer Glaube half den Eltern, diesen entsetzlichen Unfall zu überstehen.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Bei Pierre habe ich wie bei nur sehr wenigen anderen Menschen den nicht ganz geheuren Eindruck, ein langes Gespräch zu führen, das immer wieder unterbrochen wird, neue Themen aufgreift und zu alten zurückkehrt, ohne je an starker Kontinuität zu verlieren. Ich bin guten Mutes, dass dies so weitergeht, bis dass der Tod uns scheidet.
    Pierres Eltern hatten einen Laden für Elektrobedarf am Quai. Sein Vater war 1940 in Kriegsgefangenschaft geraten, aber er entkam und wurde zu einem Anführer des Widerstands, als wir Tulle verlassen hatten. Auch Pierre war sehr aktiv, und einen Tag nach dem Krieg

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