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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Lehrplan hinausgehenden Breite und Tiefe in die französische Literatur ein. Außerdem verbesserte sie meinem Schreibstil enorm und gab ihm Schliff – einschließlich der Persiflagen auf das 18.Jahrhundert –, eine Fähigkeit, die mangels Übung (»wer rastet, der rostet«) wieder verloren ging. Professionelle wissenschaftliche Schreiber können sich zumeist einen grauenhaften Stil leisten – vor allem weil die Kommunikation in der Wissenschaft stets auf überwältigende Weise verbal abgelaufen und die Zuhörerschaft eng umrissen ist. Ich dagegen wollte für ein gemischtes und mir nicht im Vorhinein bekanntes Publikum schreiben. Daher spielten Fertigkeiten im Schreiben eine Rolle. Lange Zeit glaubte ich, ich könne Englisch schreiben, aber tatsächlich schrieb ich übersetztes Französisch. Eines Tages erwähnte Mlle. Tronchon beiläufig, der Englischlehrer beherrsche Englisch nicht besonders gut. Sie dagegen hatte sehr gute Kenntnisse und machte mir ihre unergründliche Privatbibliothek zugänglich.

Offizielle und inoffizielle Büchereien
    Wichtiger als die Schule war die Stadtbibliothek im obersten Stock eines billigen Mietshauses ohne Lift. Der einzige Bibliothekar dort war freundlich und hilfsbereit, predigte jedoch jedem, der zuzuhören bereit war, den deutschen Standpunkt. Die Büchersammlung stammte aus vielfältigen Quellen. Eines Tages schaute jemand von einer hohen Behörde vorbei. Obwohl überall der Krieg tobte, war es seine Aufgabe, in regelmäßigen Abständen einen Vorrat an ehrwürdigen alten, in einem speziellen Verzeichnis aufgelisteten Büchern zu inspizieren – möglicherweise das Erbe einer Kirche oder Abtei. Diese Bücher hatte man zwar vor Schäden durch Leser bewahrt, nicht aber vor dem Wasser eines undichten Daches – man schrieb offizielle Berichte, doch die Bücher wurden nicht gerettet.
    Auch die katholische Buchhandlung Benoît Serres in der Nähe der Kathedrale diente als meine inoffizielle Leihbücherei. Ich übte mich darin, ein Taschenbuch zu lesen, ohne den Rücken zu knicken, Flecken zu hinterlassen oder anderweitig zu verraten, dass es nicht mehr neu war. Ich gab vor, die Bücher kaufen zu wollen, war dann enttäuscht und brachte sie zurück. Der Besitzer kannte mich gut (jeder in Tulle kannte mich), sah, was da ablief, sagte aber nie, dass jetzt Schluss sei. Ein guter Mensch.
    Mehrere veraltete Mathebücher bekam ich von Leuten, die sie aus der eigenen Studienzeit oder der ihrer Eltern aufbewahrt hatten. Alle enthielten unweigerlich Massen von Abbildungen verschiedener Figuren, die in späteren Büchern aus Prinzip weggelassen wurden. Aus diesen veralteten Büchern richtete ich in meinem Gedächtnis einen Zoo von Formen ein, der mir während des Winters 1944 sehr nützlich werden sollte, als ich mich auf die sehr schwierigen Mathematikexamina im Lycée du Parc in Lyon vorbereitete.

Abiturprüfungen
    Mit dem Abitur ist das Ende der höheren Schule erreicht. Damals musste ein schriftlicher und ein mündlicher Teil absolviert werden, dazu eine Zulassungsprüfung in Französisch am Ende des Eingangsjahres. Das französische baccalauréat galt nominell als Aufnahmeprüfung für das System der Universitäten mit seiner offenen Zulassung. Von daher war es recht förmlich und fand unter dem Vorsitz eines Professors der regionalen Universität statt. In meinem Fall war das die Universität von Clermont-Ferrand, und der Professor, der die Prüfung zu beaufsichtigen hatte, war ein ehemaliger Kollege Szolems. Erst später wurde mir bewusst, dass er ein notorischer Parteigänger des Vichy-Regimes war; er hätte mich denunzieren können, doch er unternahm nichts dergleichen.
    Das Prüfungskomitee zog auch die Bewertungen der Lehrer aus dem ersten und zweiten Studienjahr heran. Der Philosophielehrer mochte meine ständigen Einwände nicht, doch die wichtigen Lehrer äußerten sich sehr positiv. Der Rektor bewertete mein Eingangsjahr so: »Wird bestimmt glänzend abschneiden, ein äußerst begabter und engagiert arbeitender Schüler.« Für das zweite Jahr hieß es: »Ein außergewöhnlicher Kandidat. Wird bestimmt glänzend abschneiden.«
    Um während der Verlesung der Resultate Spannung aufzubauen, kramte der Vorsitzende in seinen Papieren und las die Liste dann in umgekehrter Reihenfolge vor, sodass mein Name zuletzt genannt wurde. Ich hatte mit Summa bestanden – angeblich als Erster in der Geschichte der Schule. Léon war als Zeuge und als moralische Unterstützung gekommen. Wir

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