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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Sie schränkte sich selbst ein, damit ihre Söhne gedeihen konnten, und wurde ganz untypisch mager.
    Papier war extrem selten und wurde nicht weggeworfen, wenn es wiederzuverwenden war. Zigaretten und Alkohol waren streng rationiert und wurden für wichtigere Dinge wie Brot und Speiseöl eingetauscht. Deshalb begann ich nie zu rauchen und erfuhr erst spät im Leben etwas über Wein. Unsere Lebensmittelversorgung wurde dadurch verbessert, dass wir ein paar Bauern kannten. Unterhaltung, die Geld kostete, kam überhaupt nicht infrage. Ich ging oft am einzigen Kino des Ortes vorbei, ohne es je von innen kennenzulernen. Ein Radioapparat hätte Strom benötigt – ein verschwenderischer Luxus. Reisen blieben auf Angelegenheiten von Leben oder Tod beschränkt.
    Auch wenn keine geschäftlichen »Netzwerke« zu knüpfen waren, ging Vater von einem Laden zum anderen, jagte nach Sonderangeboten und nicht rationierten Lebensmitteln. Er reparierte alles mögliche Zeug – etwa kaputte Fahrräder ohne Schaltung. Einen von ihm auf der Straße gefundenen und hergerichteten Stuhl sowie ein Messer, dessen gebrochenen Griff er ersetzt hatte, habe ich lange behalten. Er war handwerklich äußerst geschickt mit den geschnorrten Werkzeugen. Durch Zusehen und Helfen lernte ich, es ihm nachzutun. Er las begierig und machte sich ständig Notizen. Außerdem behielt er im Auge, was das Schicksal vielleicht bereithielt, und nutzte abgegriffene alte Bücher, um schriftliches Englisch zu lernen (»nur für den Fall, dass …«); einige seiner unendlich vielen Arbeitshefte überlebten in einer Aktenmappe aus Leder, die ich viele Jahre später fand.
    Die Besatzungsarmee gestattete in seltenen Fällen kleine Frachtsendungen aus dem besetzten Teil des Landes ins Vichy-Frankreich. Unsere Vermittlerin war Mademoiselle Marie Bart, eine Dame, die geholfen hatte, Gladys großzuziehen. Ein sehr schwerer Koffer, den sie durchbringen konnte, schien wertvoll zu sein, enthielt aber nur meine Sammlung von Reiseprospekten. Ein weiterer Koffer enthielt edles Porzellan, Hochzeitsgeschenke meiner Eltern. Mlle. Bart nahm die Metro, der Koffer sprang auf, und das edle Porzellan zersplitterte in kleine Scherben. Mutter zuckte bloß mit den Schultern. Ein paar Stücke sind noch erhalten und in meinem Besitz.
    Ein weiteres erinnernswertes Detail war eine Tausend-Dollar-Note. Entfernte Verwandte in den USA – die es sich kaum leisten konnten, sie seien gepriesen – hatten sie als Rückversicherung für Notfälle oder einen lang andauernden Krieg geschickt. Wir hatten befürchtet, der Geldschein könnte gefälscht sein, doch wie sich zeigen sollte, war er echt. Während des Nachkriegschaos blieb er uns als Rückversicherung, doch 1947 änderte er seine Bestimmung vom Lebensretter zum Retter eines mittellosen Studenten. Ich erbte den Schein, legte ihn auf auf ein Sparkonto und konnte das Geld später gut gebrauchen.

Lycée Edmond Perrier und Marie-Thérèse Tronchon
    Kurz vor unserer Ankunft war das örtlich finanzierte Collège in Tulle zum staatlich finanzierten Lycée Edmond Perrier, benannt nach einem ehemaligen Schüler und geachteten Naturforscher, aufgewertet worden. Ich erinnere mich, dass die Gebäude einen recht eleganten Eindruck machten. Die Schule liegt auf einem Hügel, den man über eine gewundene Straße oder eine dieser endlosen Tulle-Treppen erreicht, die im Winter von tückischem Eis bedeckt sind – man streute damals kein Salz.
    Das alte Lehrpersonal wurde aufgefrischt, indem ausscheidende Kräfte ersetzt wurden, reichte jedoch an den Standard des Lycée Rollin in Paris nicht heran. Die besten Lehrer stammten von einem bedeutenden Gymnasium, die aus dem Elsass vertrieben worden waren, als Hitler das Land dem Reich einverleibt hatte.
    Der Physik-Lehrplan war öde – was offensichtlich negative Auswirkungen auf die physikalische Forschung in Frankreich hatte. Meine Ausbildung in Physik bezog ich meist aus Büchern, die beschrieben, »wie die Dinge funktionieren«. Man wurde auf meine Begabung für Mathematik aufmerksam. Mir kam Mathematik einfach vor, doch entscheidend wurde sie erst nach einer späteren Selbsterkenntnis. Weit mehr faszinierte mich Geschichte – die ich mir gleichermaßen aus Büchern und Zeitungen aneignete.
    Mein unvergesslicher erster Französischlehrer, Monsieur Rouger, wurde von meiner letzten Französischlehrerin – Marie-Thérèse Tronchon (1907–1997) bei Weitem übertroffen. Sie führte mich in einer weit über den

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