Schokoherz
führen.
Mit dieser Idee im Hinterkopf schob ich an diesem Morgen klappernd die Kinder vor mir her durch die Ladentür und begrüßte Clara mit meinem üblichen fröhlichen Lächeln. Sie hingegen hatte bereits ihr unfreundlichstes Gesicht aufgesetzt.
»Was macht das Geschäft, Clara?«
»Boß«, erwiderte sie, wobei der explosionsartige Luftausstoß ihre Unterlippe aufblähte wie bei einem Ochsenfrosch. Nicht besonders attraktiv, doch in Wahrheit sparte Clara sich diese »bof«-Begrüßung für ihre liebsten Kunden auf. Es war ein Zeichen großer Zuneigung. Alle anderen funkelte sie nur so lange böse an, bis sie versuchten, etwas zu bestellen. Dann notierte sie die Wünsche in verächtlichem Schweigen und stapfte ins Hinterzimmer.So überraschte es mich auch kein bisschen, dass Clara sich nicht die Mühe machte, uns an einen Tisch zu führen oder Smalltalk zu betreiben. Stattdessen drehte sie mir den Rücken zu und stellte sich, Missbilligung ausstrahlend, an einen der anderen Tische, wo zwei eingeschüchtert wirkende Studenten saßen.
»Et alors?«, drohte sie ihnen, worauf die beiden rasch die letzten Reste ihrer heißen Schokolade hinunterkippten, kleinlaut zu ihr aufblickten, ihre Sachen schnappten und verschwanden. Ich hatte allerdings genau gesehen, dass sie zuvor eigentlich noch die Karte wegen einer zweiten Bestellung studiert hatten. Nun hatten sie wohl beschlossen, dass es besser war, feige zu sein, als ihr Leben zu riskieren, und waren geflüchtet.
»Clara? Sie haben sich da gerade Kundschaft durch die Lappen gehen lassen«, sagte ich. Sie drehte sich zu mir um und blitzte mich so zornig an, dass Madeleine spontan loskicherte und Olli ihr aus der sicheren Position meiner Arme die Zunge herausstreckte.
»Ach, Sie wissen gar nichts.« Sie riss die Hand hoch und ließ sie dann klatschend wieder nach unten fallen. Diese simple Geste sollte vermutlich die Nutzlosigkeit von Studenten im Speziellen und die nervtötenden Neigungen von Kunden im Allgemeinen symbolisieren.
»Nun kommen Sie schon, Clara. Setzen Sie sich, damit wir das mal besprechen können.« Ich zeigte auf die leeren Sessel.
»Ah, bof. Hat keinen Sinn. Ich werde einfach verkaufen und weiterziehen. Diese Leute, ich bin völlig verschwendet an sie.«
»Das ist gut möglich«, erwiderte ich. »Aber wenn Sie einfach netter zu ihnen sind, werden sie Sie mögen undmehr kaufen«, fügte ich hinzu, als würde ich dem kleinen Oliver die Regeln eines komplizierten Spiels erklären.
Clara bedachte mich mit einem langen, prüfenden und, ehrlich gesagt, ziemlich furchteinflößenden Blick. Mit ihrem orangefarbenen Kraushaar, dem achtlos aufgetragenen rosa Lippenstift und ihren tief heruntergezogenen Mundwinkeln sah sie schlimmer aus als jedes Waschweib. Doch ich wusste genau, dass unter dieser abschreckenden Hülle ein Herz aus reinem Gold schlagen musste. Denn wie sonst konnte sie solch köstliche Cceur de Bruxelles-Pralinen herstellen?
»Für mich ist das vorbei. Ich habe genug von diesen Leuten. Nett zu ihnen sein? Warum? Ich habe fünf Kinder, und keines will mir helfen. Nicht eines! Undankbar, das sind sie. Meine Ehemänner – tot! Nutzlos, vollkommen nutzlos. Und dann diese Leute, die in meinen Laden kommen und Unordnung machen.« Sie zeigte hinüber, wo die Studenten eine einzelne zerknüllte Serviette auf einem sonst makellosen Tisch hinterlassen hatten. »Es ist unerträglich!«
»Clara, haben Sie die Begriffe ›Besucherbereich‹ und ›Personalbereich‹ schon einmal gehört?«, fragte ich, als sie genug geschnauft und geächzt hatte, um wieder zuzuhören.
»Besucher-was? Was soll das denn sein?« Angewidert schürzte sie die Lippen. Vermutlich ließ es sich nicht direkt ins Französische übersetzen. Ich würde ihr das Konzept erklären müssen. Und zwar ganz vorsichtig, denn jemand mit Claras Einstellung würde dem Konzept nicht so leicht folgen können.
»In einem Laden muss man nicht alles selber machen, wissenSie. Was ist fair Sie das Wichtigste? Die Schokolade zu machen, richtig?«
»Natürlich. Alle Pralinen handgemacht, nach meinen eigenen Rezepten. Ich temperiere die Schokolade. Ich reguliere die Temperatur. Ich bereite die Gussformen vor. Ich mache die Füllungen. Ich füge noch eine Schicht Schokolade hinzu.« Clara machte eine sanfte, glättende Handbewegung wie eine Mutter, die ihr Kind zudeckt. Es war ein zärtlicher Moment, der viel zu schnell vorüberging, denn sie fing wieder an zu knurren: »Wer sonst kann sie
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