Schokoherz
glücklicherweise immer noch dieselbe junge Frau wie vor Janes unfassbar ruhmreichem Aufstieg. Ich erinnerte mich sogar an ihren Namen. »Ich würde dieses Interview gern aus weiblicher Perspektive führen, Lydia. Das können Sie Jane ausrichten – ich gehöre nicht zu den politischen Schreiberlingen bei Ihnen unten in der Lobby. Die warten ja bloß darauf, dass sie Ihre Chefin bei einem politischen Fehltritt erwischen. Ich verspreche Ihnen, ich werdenicht versuchen, sie auszutricksen. Ich würde da einen ganz anderen Ansatz wählen, nämlich herauszuarbeiten, was sie für ihre Wähler bedeutet, jene Menschen, die ihr zur Macht verholfen haben: die weibliche Leserschaft der News. Über eine Million Frauen lesen. jeden Tag unsere Zeitung, das dürfen Sie nicht vergessen«, sagte ich leichthin. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was die weibliche Leserschaft betraf, aber eine Million klang doch nicht schlecht. »Es ginge also darum, wie sich eine Frau und Mutter im politischen Olymp behauptet. Sie würde es nicht bereuen«, fügte ich mit all meiner Überzeugungskraft hinzu. Dann betete ich stumm, während die Sekretärin Rücksprache hielt und mich so lange in der Leitung warten ließ. Als sie mit einer klaren Zusage zurückkehrte, war ich völlig aus dem Häuschen.
Kurz darauf stürmte Denise funkensprühend aus dem Büro des Chefredakteurs. Mein Gesicht zierte ein zufriedenes Lächeln, während ich die übrig gebliebene Silberfolie zusammenknüllte. Denise marschierte zu mir herüber und warf einen Blick auf das leere Blatt Papier vor mir. »Immer noch nichts?«, höhnte sie. »Und was ist das da an Ihrer Lippe?«
Mit der Zungenspitze leckte ich einen Schokoladenkrümel weg. Mhm. »Also, um ehrlich zu sein, habe ich da gerade etwas arrangiert, das Ihnen sicher gefallen wird«, erklärte ich mit einem selbstbewussten Lächeln.
»Ach ja?« Denises Tonfall klang ungläubig.
»Ja. Jane Champion.«
Damit hatte ich sie am Haken. Pete sei Dank, er hatte tatsächlich recht gehabt.
»SagenSie jetzt nicht ... Nein ... sicher nicht ... die Innenministerin ...?« Denise war so aufgeregt, dass sie keinen vollständigen Satz zustande brachte.
»Ja. Genau die. Ein Interview. Exklusiv. Es ist schon alles organisiert. Nächste Woche.«
»Nächste Woche!« Denise war außer sich vor Begeisterung. Wahrscheinlich malte sie sich schon aus, wie sie dem Chefredakteur davon erzählte und dabei natürlich alle Lorbeeren einheimste. Viel wichtiger jedoch, vielleicht konnte sie ihm damit ein Lächeln abringen. Eine absolute Seltenheit. Arme Denise. Barry Johns, seit fünf langen Jahren unser Chef, mochte zwar fett, krötenhaft und glatzköpfig sein, aber für Denise war er so unwiderstehlich wie damals für Königin Elizabeth ihr verheirateter Liebhaber Robert Dudley. Denise verbrachte täglich ihre gesamte Zeit damit, um ihn herumzuschleichen. Und wenn er sich auch nur an ihren Namen erinnerte, war das schon mehr, als sie je zu hoffen wagte. Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, wie sie prompt zurück in sein Büro eilte. Da drehte sie sich um. »Ach, Bella?«
Ich zuckte pflichtschuldig zusammen. »Ja?«
»Gut gemacht.« Ihre verkrampften Züge entspannten sich zu einem Lächeln. Bevor ich mich unter Kontrolle hatte, strahlte ich sie an. Verdammt, ich war keinen Deut besser als Denise: süchtig nach jedem noch so kleinen Krümel Lob. Dieser unerfreuliche Gedanke beschäftigte mich, bis mir plötzlich eine Eingebung kam: Ich hatte hart gearbeitet und brauchte ganz dringend eine Pause. Die hatte ich mir verdient. Sobald Denise hinter der Tür des Chefbüros verschwunden war, lehnte ich mich zu Jackie hinüber. »Kaffee?«
Jackieseufzte und schloss die Augen, wobei ihre kräftig getuschten Wimpern zwei leuchtend blaue Fächer auf ihren Wangen bildeten. Sie wusste von früher, dass meine Angebote, ihr etwas aus der Cafeteria zu holen, stets zur Folge hatten, dass ich so lange wie irgend möglich wegblieb und dann womöglich sogar vergaß, ihr einen Becher lauwarme braune Brühe mitzubringen. In der Zwischenzeit würde sie alle meine Anrufe entgegennehmen müssen – das Kindermädchen, meine Mutter, Fotografen, die Bücherei ... Und noch schlimmer: Meistens nahm ich Louise und Pete mit, also musste sie auch deren Telefone hüten. Doch als ich sie jetzt aus großen flehenden Augen ansah, wusste ich, dass sie nicht würde nein sagen können. Es sich mit mir nicht zu verderben war ihr wichtiger als eine Stunde Telefonterror. »Dann gehen
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