Schottische Ballade
Sohn. Es gab keine zweite Gelegenheit. Sie konnte Lion Sutherland nicht zurück in ihr Leben lassen. Sie konnte nicht zulassen, dass er ihrem Sohn begegnete und die Wahrheit herausfand.
„Ich kann nicht“, flüsterte sie.
Lion lächelte, um seine Enttäuschung zu verbergen. Der Schmerz in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen, als sie ihn zurückwies. Etwas ging vor sich. Aus irgendeinem Grund verleugnete sie, was zwischen ihnen lag. Er musste herausfinden, was es war. Sie in sein Gemach zu ziehen und zu verführen hätte zwar den Schmerz in seinem Innersten gelindert, doch dieser kleine Sieg konnte ihn den Krieg verlieren lassen. Und den entscheidenden Preis.
„Komm, ich bringe dich zurück“, sagte er unbeschwert. „Du zitterst vor Kälte.“
Sie blinzelte, überrascht, dass er nicht drängte. „Ja, es liegt eine plötzliche Kälte in der Luft.“
„Doch nicht in meinem Herzen.“ Er nahm ihren Arm und führte sie fort, öffnete die Tür, und vor ihr hergehend, stiegen sie die Treppe hinab. Seine Gedanken waren mit unzähligen Angelegenheiten beschäftigt, die er bis zum Morgen lösen musste. Kurz bevor sie den Absatz des dritten Stocks erreichten, ergriff sie ihn plötzlich an der Schulter und hielt ihn zurück.
„I...ich glaubte, etwas vernommen zu haben“, flüsterte sie.
Lion versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Die Fackel, die hell brannte, als sie nach oben gingen, war nun fast erloschen. Lange Schatten verteilten sich über den Bogengang, der sich zum dritten Stock hin öffnete. Dort waren Lagerräume. Und etwas weiter war ein großer Raum, in dem die Mägde schliefen. Er sah nichts, doch er hörte ein schwaches Scharren. Ein Fuß rieb auf dem Steinboden.
Jemand wartete dort.
In seinen Gedanken sah er, was sich abspielen würde. Die Angreifer würden warten, bis er und Rowena vorbei waren, dann würden sie hinter ihnen herschleichen und von oben herab zuschlagen. Unerwartet. Mit tödlicher Absicht.
„Zieh deine Schuhe aus und gib sie mir“, flüsterte er.
Rowena stellte keine Fragen, sie tat einfach, worum er sie bat.
Lion hatte seine Stiefel bereits in der Hand, als sie ihm ihre Schuhe reichte. Auf Zehenspitzen schlich er hinab und stellte das Schuhwerk auf den Treppenabsatz. „Ah, Rowena, deine Küsse haben mein Blut zum Wallen gebracht“, sagte er mit heiserem Wispern. „Lass uns in mein Gemach eilen, denn ich kann nicht länger warten, deine Süße auszukosten.“
Er winkte Rowena, zog sein Messer und warf einen Schuh nach dem anderen die Treppe hinab. Mit einem rumpelnden Geräusch fielen sie die Steinplatten hinunter.
„Das sind sie. Komm mit“, sagte eine heisere Stimme. Zwei dunkle Schatten erschienen im Bogengang, Stahl blitzte in ihren Händen.
Lion überlegte, was er über den Kampf Mann gegen Mann in engen Räumen gelernt hatte. Die Gegner waren in der Übermacht, und er musste Rowena beschützen. Sicherheit gewann über Ritterlichkeit. Lautlos hastete er hinter den Männern her und erreichte sie an der nächsten Biegung der Treppe. Die Männer trugen dunkle Tuniken, keine Plaids und hatten Kapuzen über die Köpfe gezogen.
„Wo, zur Hölle, sind sie?“ sagte einer und beugte sich vor, um über die Treppenflucht hinauszuspähen.
„Hier.“ Lion stieß seine Faust dem Letzten der Männer in den Rücken, und dieser prallte auf seinen Spießgesellen.
Ein Aufschrei der Überraschung hallte im Treppenhaus wider, unterbrochen durch den dumpfen Aufschlag der Männer, als sie in die Dunkelheit hinabstürzten. Sie stießen erregte Flüche aus, so dass Lion lächeln musste.
„Lion?“ rief Rowena vorsichtig. „Lion?“ Sie hastete die Stufen hinab, ein Dolch blitzte in ihrer Hand.
„Hier.“ Er riss sie an sich. „Was tust du? Ich sagte dir, du sollst Zurückbleiben.“
„Ich dachte, du könntest meine Hilfe brauchen. O Lion, was ist in dich gefahren, ihnen zu folgen, anstatt einen Hilfeschrei auszustoßen?“
Er lachte. „Dann hätten sie uns wahrscheinlich die Kehlen durchgeschnitten, ehe Hilfe gekommen wäre.“
„Natürlich.“ Sie legte den Kopf an seine Brust. „Daran habe ich nicht gedacht. I...ich hatte solche Angst.“
„Ich hätte nicht zugelassen, dass sie dir etwas antun“, sagte Lion kurz, so als ob sie seine Tapferkeit in Frage stellte.
„Ich weiß“, sagte sie schwach. Sie spürte das feste Schlagen seines Herzens. Sie war besorgt um ihn gewesen. Verdammt. Verflucht sei er dafür, dass sie Dinge begehrte, die sie nicht begehren
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