Schritte im Schatten (German Edition)
großen, vergrabenen Schatz –, dann müssen wir es haben. Es steht uns gewissermaßen rechtmäßig zu. Als ich wusste, dass es diese andere Welt gab, die »spirituelle« – obwohl es mir schwerfällt, dieses Wort zu gebrauchen, weil es mittlerweile so verkommen ist –, erfuhr ich zwei starke Reaktionen an mir. Die erste war Empörung über meine eigene Kultur, weil sie diese andere Welt ignorierte – aber ich empöre mich ziemlich leicht und war noch weit davon entfernt, ebendas zu begreifen. Die andere Reaktion stellte ein starkes, besitzergreifendes Verlangen dar, ein geheimes Frohlocken. Es war Gier, aber das wusste ich nicht. Ich hielt es für lobenswert, dieses heimliche »Gib-her-Gib-her«, an das ich mich klammerte. Noch schlimmer als dieses »Gib her« war mein »Ich
will
das tun,
will
das erreichen.
Ich
will«.
Fast alle Leute, die einem »Weg« folgten, haben die Erfahrung gemacht, dass sie voller Scham auf ihre ersten Schritte zurückblicken und bedauern, wie sie sich in ihnen so sehr irren konnten.
Und nun stellt sich ein wirkliches, ein schwerwiegendes Problem. Von dieser Zeit an – das heißt, seit dem Ende der fünfziger Jahre – hat es in meinem Leben eine Hauptströmung gegeben, tiefer als jede andere, mein, wenn man so will, wahres Bestimmtsein. Ein paar Leute werden es nachvollziehen können, weil sie etwas Ähnliches durchlebt haben, die meisten aber werden vermutlich desinteressiert oder gelangweilt sein. Und so werde ich nur erklären: Das war mein wahres Leben.
Es gibt eine kleine Geschichte aus dem Sufismus, aus dem Buch mit dem Titel
Die Sufis
von Idries Shah. Aber ich war noch nicht auf den Sufismus gestoßen.
Ein Mann ist Gefangener auf einer Insel, aber er weiß nicht, dass er ein Gefangener ist und dass das Leben aus mehr besteht als dem Leben eines Gefangenen. Ein Retter bietet ihm eine Fluchtmöglichkeit an, auf einem Schiff, aber er sagt: »Oh, danke, danke, ich werde kommen, aber ich muss meine Tonne Kohl mitnehmen.«
Als ich die Geschichte zum ersten Mal las, dachte ich,
ich
wäre nicht so dumm, eine Tonne Kohl … – aber leider fällt es einem sehr schwer, sich von
dieser
Tonne Kohl zu trennen. Damals sagte ich viel zu oft: »Natürlich wäre
ich
nicht so dumm, um …«, was immer es auch gerade sein mochte. Und das führt mich zu einer weiteren Schwierigkeit. Wenn man auf einem Gebiet gut ist, dann setzt man unbewusst voraus, dass man es auch auf anderen Gebieten ist; wenn man auf einem Gebiet Erfolg gehabt hat, dann nimmt man an, dass dieser Erfolg auch als gute Note bei einem anderen »zählt«.
Auch die kleine Geschichte über den Gefangenen wird einigen viel bedeuten, anderen überhaupt nichts. Und deshalb genug hiervon. Leute, die sich dafür interessieren, können selbst nachlesen, was mich beschäftigte. Es war der Gelehrte des Sufismus, Idries Shah [34] , dem ich die Entdeckung dessen verdankte – wie ich es damals sah –, was der Suche,
meiner
Suche lohnte. Seine Bücher kann man kaufen.
Das »Aufgeben« von Unabhängigkeit habe ich falsch gesehen, aus Unwissenheit und Überheblichkeit, wie ich bald herausfand. Was es gab, war echte Bestürzung und Verdruss. Als ich damit anfing, nach einem »Weg« oder einer geistigen Schule Ausschau zu halten, behielt ich es für mich, weil die Atmosphäre jener Jahre so grundsätzlich dagegen war. Immerhin waren die kultverrückten Sechziger mühelos vorherzusehen, vor allem dann, wenn ich mich daran erinnere, wie unsere streng dogmatisch-atheistische Gruppe in Gespenstergeschichten und Séancen endete.
Ein Ereignis während einer Party im Jahr 1963 . Das Zimmer war voller Leute. Alle waren in der Kommunistischen Partei gewesen oder hatten ihr nahegestanden. Jemand nahm ein Buch in die Hand und fragte mich fassungslos: »Was liest du da?«
»Es ist ein Buch über Hatha Yoga«, sagte ich. Hatha Yoga ist die den Körper betreffende Disziplin von Yoga. Stumme Blickwechsel, gerunzelte Stirnen, taktvoller Wechsel des Themas. Nur fünf Jahre später hätte es keinem dieser Leute etwas ausgemacht zu sagen: »Nein, Mittwoch kann ich nicht, da gehe ich zum Yoga.«
Das wirklich Peinliche an diesem Vorfall, der Ausdruck eines Zustands, bedarf einer raschen und natürlich unbefriedigend bleibenden Generalisierung. Wenn man praktizierender Christ ist oder Bücher wie
The Cloud of the Unknowing
ihrer literarischen Qualität wegen gelesen hat, dann bedeutet das Wort »Mystizismus« einem etwas Ernsthaftes. Aber das
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