Schuld währt ewig
bekam.
Ursula Weidenbach beendete die Aufnahme der Befunde und steckte das Diktiergerät ein. »Mit der äußeren Schau sind wir fertig. Keine Überraschungen. Das Muster der Blutunterlaufung am Oberschenkel passt zu einem Bullenfänger.« Sie deutete auf ein flächiges Hämatom. »Wir haben keine Lackpartikel an der Kleidung gefunden. Das bestätigt die Zeugenaussage, der Bullenfänger sei verchromt gewesen. Die Höhe der Verletzungen an den Beinen passt ebenfalls zu einem SUV . Ebenso der Unfallablauf. Der Mann wurde vom Fahrzeug weg auf die Straße geschleudert und nicht, wie bei PKW -Unfällen typisch, auf die Motorhaube geschaufelt. Die Kopfverletzungen stammen nicht vom Anprall, sondern von einer Überrollung. Hier können Sie ein lehrbuchhaftes Ohrzeichen sehen.« Mit einer Pinzette wies Ursula Weidenbach auf eine Risswunde, die zwischen Jochbein und Ohr parallel zur Ohrmuschel von oben nach unten verlief. »Das entsteht bei einer Überrollung des Kopfes, wenn die Drehrichtung des Rades vom Gesicht zum Hinterkopf verläuft.«
Leyenfels ließ das Taschentuch sinken. »Todesursache ist also ein schweres Schädel-Hirn-Trauma?«
Ursula Weidenbach nahm die Brille ab. »Nein. Sehen Sie hier.« Sie ging zur Leuchtwand hinter dem Sektionstisch, an der die Röntgenaufnahmen hingen. »Sein Gott war ihm gnädig. Eine Fraktur der Halswirbel zwischen Atlas und Axis, mit kompletter Durchtrennung des Rückenmarks. Das hat die Zerstörung der Nervenzentren für Atmung und Kreislauf zur Folge. Er war sofort tot.«
Dühnfort atmete durch. Seine Lunge füllte sich mit Leichengeruch, der darin kleben blieb. Aus der Jackentasche zog er ein Döschen Pfefferminzbonbons und bot Leyenfels, als er dessen begehrlichen Blick bemerkte, eines an.
»Haben Sie an der Kleidung Spuren sichern können?«
Weidenbach kehrte an den Tisch zurück. »Keine, die Schlüsse auf das Fahrzeug zulassen. Wie schon gesagt, es gibt keine Lackpartikel und auch keine Spuren von Glas oder Kunststoff. Tut mir leid. Die Abriebspuren an den Schuhsohlen zeigen, dass das Opfer von schräg hinten erfasst wurde. Etwa in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel. Sehen konnte der Mann das Fahrzeug also nicht. Und vermutlich auch nicht hören, wenn er tatsächlich telefoniert hat.«
»Und sonst gibt es keine Besonderheiten? Irgendetwas, das uns weiterhilft?«
»Die toxikologischen Untersuchungen laufen noch. Ob Alkohol oder Drogen bei diesem Unfall eine Rolle spielen und der Mann so eine Mitschuld an seinem Tod trägt, werden wir in den nächsten Tagen wissen.«
Die Spurenlage war einfach Mist. Ein dunkler SUV mit verchromtem Bullenfänger. Die Suche nach diesem Fahrzeug war so gut wie aussichtslos. Vielleicht gelang es Buchholz trotz seiner pessimistischen Prognose, anhand der Scheinwerferscherben Fahrzeugtyp und Baujahr herauszufinden.
10
Mord! Ging es nicht eine Nummer kleiner? Eugen Voigt schloss die Tür hinter sich, stellte die Einkaufstasche ab und schlüpfte aus dem Mantel. Natürlich war der Unfall Tagesgespräch unter den Hausbewohnern und auch im Supermarkt vorne an der Ecke.
Alle dachten, es sei ein Mord geschehen! Welch grandiose Übertreibung. Schließlich wusste er, was er gesehen hatte. Und vor allem, was er fotografiert hatte. Allerdings nicht wen. Auf den Bildern war der Fahrer nur undeutlich zu erkennen. Wie so häufig. Die Scheiben spiegelten. Und diesen Umstand machten manche Halter sich zunutze und behaupteten, nicht selbst gefahren zu sein und sich nicht erinnern zu können, wer das Auto zum fraglichen Zeitpunkt gehabt hatte.
Trotzdem. Ein Mord war das nicht gewesen. Dieser Oberstleutnant Büttner war ein Wichtigtuer. Seit einigen Wochen besaß er eine Brille. Am Unfallabend hatte er keine getragen. Auf Eugens Aufnahmen war das zu erkennen. Und die Obermeier, die den Unfall aus hundert Metern Entfernung gesehen hatte, war eine Aufschneiderin. Eine von der Sorte, die aus einem Regenschauer ein Unwetter machte und aus einem Sonnentag eine Hitzewelle. Eine, die in einem Mann mit wulstigen Lippen einen potenziellen Kinderschänder sah und in jedem freizügig gekleideten Mädchen eine mögliche Prostituierte. Im ganzen Haus posaunte sie herum, Flade sei absichtlich überfahren worden. Ich habe es genau gesehen. Ohne Licht ist der auf den armen Mann zugerast. Schrecklich ist das. So schrecklich. In was für einer Welt leben wir denn! Die arme Frau. Sie ist schwanger, habe ich gehört.
Zugegeben: Die Scheinwerfer waren nicht eingeschaltet gewesen.
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