Schuld währt ewig
niemanden. Doch dann erkannte sie ein Fahrzeug der Seniorenresidenz. Thorsten. Seit sie nach Martinas Beisetzung im Streit auseinandergegangen waren, hatten sie nicht miteinander gesprochen. Einerseits freute sie sich, dass er sie besuchte, bemerkte aber gleichzeitig eine Spur von Verärgerung. Er kam wieder einmal unangemeldet. Woher nahm er die Sicherheit, dass sie da sein würde, und wie konnte er annehmen, dass ihr sein Besuch immer gelegen kam? Ein wenig überheblich war das schon. Sanne schüttelte den Kopf, als könnte sie so diese ungewohnten Gedanken vertreiben. Bisher hatte sie sich doch nie daran gestört, dass Thorsten kam, wann er wollte. Ganz im Gegenteil. Er war ihr stets willkommen gewesen.
Er parkte neben dem Porsche und stieg aus. War sein Auto noch immer in Reparatur?
»Hallo, Sanne.« Er nahm sie in den Arm. »Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich.«
»Weshalb sollte ich denn sauer sein?«
»Na, wegen meines Abgangs neulich, nach Martinas Beerdigung, und wegen dieser blöden Bemerkung, die ich gemacht habe. Es tut mir leid. Mir geht das offenbar mehr an die Nieren, als ich wahrhaben will. Und das wollte ich dir persönlich sagen. Nicht am Telefon. Und außerdem wollte ich dich fragen, ob du morgen Abend mit mir essen gehst.«
Sanne zögerte. Ob das eine gute Idee war?
»Es gibt etwas zu feiern. Ich habe die Stelle bekommen. Ab ersten März bin ich Pflegedienstleiter.«
»Hey. Das ist ja toll!« Sie trat zur Seite. »Jetzt komm schon rein. Auf die Beförderung müssen wir anstoßen. Magst du ein Glas Wein?«
»Klar.«
Sanne nahm Gläser aus dem Schrank, holte eine Flasche Wein aus dem Abstellraum, die ihr Frederick mal für besondere Gelegenheiten geschenkt hatte, und ging damit ins Wohnzimmer. Thorsten entkorkte sie und schenkte ein. Sie stießen auf seine neue Position an, und Thorsten verhielt sich wie immer. Keine Annäherungsversuche. Sanne war froh, dass er ihr die Zurückweisung nicht übelnahm. Er schien ganz der Alte zu sein. Sie sprachen über seine Arbeit und dann über die bevorstehende Skisaison. Thorsten wollte mit dem Tourengehen beginnen und fragte, ob Sanne nicht auch Lust dazu hätte. Skifahren war eigentlich nicht so ihr Ding. Ewig am Lift anzustehen, um dann in drei Minuten eine Piste herunterzujagen, machte wenig Spaß. Doch auf Skiern den Berg zu besteigen, um dann abzufahren, stellte sie sich reizvoll vor. Sie wollte es sich überlegen.
Irgendwann kam Thorsten auf Ludwigs Todestag zu sprechen. Er wollte wissen, ob sie ihn gut hinter sich gebracht hatte. »Ich wäre gerne bei dir gewesen. Aber die Arbeit … Zwei unserer Pflegerinnen sind ausgefallen. Ich musste eine zweite Schicht übernehmen.«
»Das ist doch in Ordnung. Ich muss alleine damit klarkommen, und inzwischen überstehe ich den Tag ganz gut.« Sie erzählte ihm weder von der Begegnung mit Evelyn und Nils noch von ihrem neuen Rekord. München-Ostkreuz bis Nürnberg-Fischbach. 166 Kilometer in 57 Minuten. 57 Minuten, in denen sie nichts dachte, nichts denken konnte. Er würde ihr Vorhaltungen machen, genau wie ihr Vater.
»Und die Tage davor? Hast du wieder schlecht geschlafen und nach den verlorenen Sekunden gesucht?« Diese Frage klang in Sannes Ohren seltsam vorwurfsvoll. Instinktiv spürte sie, dass es besser war, sich diesem Thema zu entziehen.
»Es wird langsam besser«, log sie. »Ich frage mich nicht mehr so häufig, was geschehen ist. Eigentlich weiß ich es ja. Ich habe getan, was ich immer getan habe. Ludwig zugedeckt, ihm eine gute Nacht gewünscht, Spielzeug aufgeräumt, und dann bin ich gegangen. Meine Hand lag auf der Türklinke, als Ludwig … als er … als es passiert ist.«
»Aber sicher bist du dir nicht?«
Was war das jetzt für eine Frage?
»Natürlich nicht. Ich kann mich schließlich nicht erinnern. Aber ich weiß, was ich immer getan habe. Weshalb hätte ich etwas anderes machen sollen als sonst?« Unwillkürlich war sie in Abwehrhaltung gegangen und verteidigte sich. Obwohl sie sich nicht rechtfertigen musste.
Thorsten stützte die Ellenbogen auf und legte die Handflächen aneinander. Er wirkte nachdenklich, in sich gekehrt und irgendwie besorgt. »Ich habe vor einigen Tagen einen Artikel in einer Fachzeitschrift gelesen.«
Thorsten und sein Interesse an allen Arten von Wissenschaft. Bevorzugt Psychologie. Ständig sah er Wissenssendungen und kaufte sich all diese Zeitschriften, die ihr Geld damit verdienten, wissenschaftliche Themen so aufzubereiten, dass die
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