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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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bemerkte einen alten Mann, der auf einem Stuhl saß und ihn anstarrte. Er war ein Yupik mit der verwitterten Haut eines Menschen, der sein ganzes Leben im Freien verbracht hatte. Er trug eine grüne Flanellhose und einen fellgefütterten Parka. »Aliurturua«, stammelte der Mann. Ich sehe einen Geist .
    Â»Kein Geist.« Daniel machte einen Schritt auf ihn zu. »Cama-i.«
    Das Gesicht des Mannes legte sich in Runzeln, und er ergriff Daniels Hand. »Alangruksaaqamken.« Du hast mich überrascht, so unerwartet hier aufzutauchen .
    Daniel hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr Yupik gesprochen, doch die Silben strömten durch ihn hindurch wie ein Fluss. Die allerersten Yupik-Worte hatte Nelson Charles ihm beigebracht: iqalluk … Fisch, angsaq … Boot und terren purruaq … du lutschst das Fleisch vom Arschloch, was er, laut Nelson, zu den Kindern sagen sollte, die ihn in der Schule ärgerten, weil er ein kass’aq war. Daniel zog Laura zu sich, die den Wortwechsel erstaunt verfolgt hatte. »Una arnaq nulirqaqa.« Das ist meine Frau .
    Â»Die ist hübsch«, sagte Nelson. Er schüttelte ihr die Hand, sah ihr aber nicht in die Augen.
    Daniel wandte sich Laura zu. »Nelson war früher Hilfslehrer. Wenn die Yupik-Kinder eine Klassenfahrt nach Anchorage machten, wurde das staatlich subventioniert, und ich durfte nicht mit, weil ich weiß war. Dann hat Nelson immer eigene kleine Ausflüge mit mir gemacht, um Fischnetze und Tierfallen zu kontrollieren.«
    Â»Ich unterrichte nicht mehr«, sagte Nelson. »Ich bin jetzt hier der Rennleiter.«
    Das bedeutete, dass Nelson schon zu Beginn des K300 vor Ort gewesen sein musste. »Hör mal«, sagte Daniel und merkte, dass er wieder ins Yupik verfiel, weil die Worte, die ihm stachelig auf der Zunge lagen und in der Kehle steckten, dann weniger wehtaten. »Paniika tamaumauq.«
    Ich suche meine Tochter.
    Er musste Nelson nicht erst erklären, wieso er vermutete, sein Kind, das einen halben Kontinent entfernt lebte, könnte hier in Alaska gelandet sein. Die Yupik wussten, dass der Mensch, der du warst, als du dich abends schlafen gelegt hast, nicht unbedingt mehr der Mensch ist, als der du am nächsten Morgen aufwachst. Vielleicht bist du ein Seehund oder ein Bär geworden. Vielleicht bist du hinübergegangen in das Land der Toten. Vielleicht hast du im Traum beiläufig einen Wunsch ausgesprochen und durchlebst ihn jetzt.
    Â»Sie ist vierzehn«, sagte Daniel und versuchte, Trixie zu beschreiben, aber es fiel ihm schwer. Ihre Körpergröße oder ihr Gewicht oder ihre Haarfarbe konnten doch gar keinen Eindruck von ihrer Persönlichkeit vermitteln.
    Die Frau, die die ganze Zeit telefoniert hatte, kam hinter dem Tisch hervor. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung von vorhin, aber das Telefon steht einfach nicht still. Jedenfalls, ich kenne so gut wie alle von den freiwilligen Helfern. Ein Mädchen ist wegen des Schneesturms verspätet angekommen, aber inzwischen sind sie alle oben in Tuluksak und besetzen den Kontrollpunkt.«
    Â»Wie sah sie aus?«, fragte Laura. »Das Mädchen, das zu spät gekommen ist?«
    Â»Mageres kleines Ding. Schwarzes Haar.«
    Laura sah Daniel an. »Das war sie nicht.«
    Â»Die Kleine hatte keine warme Jacke mit«, sagte die Frau. »Ich fand das komisch, schließlich wusste sie doch, dass sie nach Alaska reist. Sie hatte nicht mal eine Mütze dabei.«
    Daniel dachte daran, wie er Trixie mitten im Winter zur Schule gefahren hatte. Es ist eiskalt draußen , hatte er gesagt und ihr eine orangerote Wollmütze gegeben, die er immer trug, wenn er draußen Holz hackte. Zieh die an . Und ihre Antwort: Dad, willst du etwa, dass die anderen mich für total bescheuert halten?
    Daniels Herz tat einen Satz. Er hatte urplötzlich das Bild seiner Tochter vor Augen, die zitternd vor Kälte in einer Art Heuhafen lag. »Ich muss nach Tuluksak.«
    Â»Ikayurnaamken«, sagte Nelson. Lass mich dir helfen.
    Das letzte Mal, als er hier war, hatte Daniel die Hilfe von niemandem gewollt. Das letzte Mal, als er hier war, hatte er jede Hilfe bewusst abgelehnt. Jetzt wandte er sich an Nelson. »Kann ich mir dein Snowmobil leihen?«, fragte er.

    Der Kontrollpunkt in Tuluksak war in der Schule untergebracht, nicht weit vom Fluss, die Musher konnten ihre Hunde daher in Strohlagern am Ufer unterbringen und dann bequem zum Gebäude

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