Schuldlos ohne Schuld
langjährige Erfahrungen in verschiedenen Anstalten gesammelt hat. Einen solchen Experten wagt kaum jemand in Frage zu stellen.
»Das ist doch selbstverständlich«, fügt er hinzu. »Ein Amateur hätte das nie geschafft.«
Nach diesen schweren Worten der Weisheit, die in gewisser Hinsicht gegen Martin gerichtet sind, um ihm den Mund zu stopfen, schweigen die anderen. Nur Martin tritt weiter selbstsicher und dickköpfig auf.
»Ich weiß trotzdem, wer es ist«, brummt er so kräftig, dass jeder ihn hören muss.
Sie geben sich keine Mühe zu antworten. Wie gewöhnlich nimmt niemand Martin Larsson ernst.
»Ihr versteht ja nichts!«
Martin spuckt die Worte fast heraus. Er steht allein und stiert die anderen eine Weile an. Dann zuckt er herablassend mit den Schultern und kehrt wieder zu seinem einsamen Ecktisch zurück.
Das Phantombild des mutmaßlichen Attentäters hat aufs Neue das Interesse an dem Mord erweckt, und die Diskussion lebt wieder auf. Allmählich kommen die Männer an dem langen Tisch zu einer gemeinsamen Schlussfolgerung. Der Mann in der Zeitung gleicht niemandem, den sie kennen, am allerwenigsten Martin, falls jemand jetzt auf die Idee gekommen sein sollte, ihn mit dem Bild zu vergleichen.
Die Leute, die hier sitzen, geben zu, nie irgendwelche Profis getroffen zu haben. Es ist unsinnig, sich vorzustellen, dass sie solche Bekanntschaften haben könnten. Wenn trotzdem jemand dergleichen andeuten würde, muss er sich damit abfinden, dass niemand ihn ernst nimmt. So ein Geschwätz ist nur dumme Angeberei, ein Versuch, sich wichtig zu machen. Das einzige, was die Männer hier über Profis wissen, haben sie aus dem Fernsehen oder vom Video. Die Professionellen halten sich in einer anderen Sphäre auf.
Ist das wirklich eine annehmbare Schlussfolgerung? Mindestens zwei von denen, die an dem langen Tisch sitzen – und ein dritter, der seine Frau mitgenommen hat und sich außerhalb der Gruppe aufhält –, haben Erfahrungen mit den staatlichen Verwahranstalten, wohin auch die Professionellen gegen ihren Willen gebracht werden, wenn sie Pech haben. Nicht aus Bescheidenheit ziehen sie es vor, sich der Unkenntnis der anderen anzuschließen. Sie stehen unter bedeutend strengerer Verschwiegenheitspflicht als andere; sie haben geschworen, über Geheimnisse zu schweigen, und sie wissen, dass die Strafe für Geschwätzigkeit erbarmungslos ist.
Es ist keine Schande, eine Strafe verbüßt zu haben. Alle hier sind sich darin einig, dass es schwer ist, ein untadeliges Leben in der modernen Gesellschaft mit all ihren Verlockungen zu führen. Die Gerechten behaupten natürlich, dass der Makel nie mehr verschwindet, und das mag in ihren Kreisen gelten. Hier im Parterre der Gesellschaft ist die Einstellung eine ganz andere. Hier kann man leichter verzeihen und über begangene Fehltritte hinwegsehen, da fast jeder etwas auf dem Kerbholz hat. Sie wissen auch, dass das meiste auf Pech oder auf Suff geschoben werden kann.
»Was muss der für Nerven haben!«, sagt einer der Männer und bricht das nachdenkliche Schweigen.
Man kann etwas Verträumtes aus seinen Worten heraushören, vielleicht sogar einen Funken von Bewunderung.
»Trotzdem ist und bleibt es teuflisch«, antwortet der Tischnachbar.
Die Einigkeit in der Runde ist wieder vollkommen, das Gemurmel zustimmend.
Martin lauscht an seinem Ecktisch mit gespitzten Ohren, und eine leichte Röte hat sich auf seine Wangen geschlichen. Es ist für ihn schwer, still dazusitzen, und er strengt sich an, kein einziges Wort zu versäumen. Sie sprechen über ihn. Alle sprechen über ihn, nicht nur hier in der Kneipe und im ganzen Land, sondern in der ganzen Welt. Martin ist eine bekannte Person geworden. Es gibt niemanden, von dem die Welt begieriger den Namen erfahren möchte.
Wie unbedeutend sehen sie aus! All die Männer, die fast jeden Abend hier sitzen und sich vor den anderen groß tun, während sie ihr Bier trinken. Im selben Augenblick, wenn sie die Kneipe verlassen, sinken sie zusammen und werden ebenso klein und bedeutungslos, wie sie es tatsächlich sind. Dass er daran früher nicht gedacht hat! Nur hier, in dieser Gesellschaft von Gleichgesinnten, können sie sich groß fühlen, nirgendwo sonst. Im Gegensatz zu ihm, der überall groß ist.
Niemand von euch, flüstert Martin zu sich selbst, wird jemals so bekannt sein und bedeutend sein wie ich.
Eine Blutwoge siedet in seinem Gesicht hinauf. Ihr müsstet nur wissen …!
Martin erhebt sich und geht zur Theke, um
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