Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
Der Weg durch die Wallanlagen war deutlich kürzer.
Ariane Vogelsang kehrte um und bog rechts in den Schotterweg.
Während sie mit schnellem Schritt weiterlief, dachte sie, dass sie vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte. Um diese Uhrzeit war hier niemand mehr unterwegs, und wenn sie ehrlich war, war es verdammt unheimlich.
»Blöder Mond, verdammter Nebel«, knurrte sie leise und fing an zu laufen.
Nur noch schnell weiter und ab ins Bett.
Hinter sich hörte sie ein Geräusch, und ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen, rannte sie weiter.
Pure Einbildung, bist eben doch ein Angsthase ...
Wieder war da ein Geräusch, ein Rascheln wie von Schritten im nassen Laub.
Lauf!
Sie nahm die Hände aus den Taschen und rannte noch schneller.
Du bist so bescheuert ... Warum bist du nicht oben an der Hauptstraße langgelaufen? Du bist so saublöd ... Das hast du nun davon. Jetzt machst du dir in die Hosen ...
Wieder ein Geräusch, diesmal kam es von rechts.
Weg hier!
Sie legte die Arme an, im selben Moment spürte sie Hände auf ihrer Schulter, und sie schrie gellend auf.
»Ganz ruhig, Mädchen«, flüsterte eine heisere Stimme.
Wo kommt der her? Wo kommt der plötzlich her?
Ariane Vogelsang war Kampfsportlerin, und sie hatte gelernt, blitzschnell zu reagieren. Auch hatte sie gelernt, lauthals zu schreien.
Es war seltsam, doch genau das bereitete vielen Frauen große Probleme.
Schrei und mach auf dich aufmerksam. Schrei und dein Angreifer wird erst mal total überrascht sein, dass du eine so laute Stimme hast und dich traust, sie zu benutzen.
Diese beiden Sätze hatten sich in ihr Hirn gebrannt, seitdem sie vor acht Jahren mit dem Kampfsport angefangen hatte.
Die Hände hatten ihre Schulter kaum umfasst, als sie abrupt stehen blieb, sich etwas vornüber und gleichzeitig nach links beugte.
In dieser Position hatte sie schon Männer über die Schulter geworfen, die deutlich größer und schwerer als sie selbst waren.
»Ruhig, Mädchen«, murmelte die Stimme wieder. Plötzlich gab es einen Ruck, und die Hände waren verschwunden.
Ariane drehte sich um und sah den Mann, der sie offenbar gerade festgehalten hatte, am Boden knien, beide Hände an seinem Kopf. Er beugte sich vor und zurück und stöhnte fürchterlich.
Ariane wirbelte herum und rannte los. Weg, nur weg.
In ihrer Wohnung verbarrikadierte sie die Tür, kroch in ihr Bett und betete immer wieder denselben Satz wie ein Mantra rauf und runter: Dir ist nichts passiert, dir ist nichts passiert ...
Jürgen Klement war schon in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zur Arbeit. Er war Bäcker und Konditormeister und daher jeden Morgen um diese Zeit unterwegs.
Er nahm die Straßenbahn bis zum Herdentor und lief von da aus zu der Bäckerei, in der er seit fast zwanzig Jahren arbeitete.
Es war ungemütlich kühl, und Klement stopfte seine Hände in die Jackentaschen. Den Jackenkragen hatte er hochgeschlagen.
In ein paar Minuten würde er in der warmen Backstube sein. Es gab Tage, da freute er sich darauf, einen so warmen Arbeitsplatz vorzufinden. Es gab aber auch andere Tage. Die im Hochsommer zum Beispiel.
Als er an den Wallanlagen vorbei kam, hörte er ein Geräusch, gleich darauf sehr eilige Schritte.
Klement blieb stehen und blickte nach rechts. Ganz deutlich hörte er, wie jemand davonrannte. Ein etwas mulmiges Gefühl beschlich ihn. Möglicherweise spielte seine Fantasie ihm auch einen Streich. Normal war es jedenfalls nicht, dass jemand mitten in der Nacht durch die Wallanlagen joggte. Jemand läuft vor irgendetwas weg, dachte er und wischte den Gedanken gleich wieder beiseite. Sei nicht albern ...
Plötzlich sah er, wie von rechts eine Gestalt auf ihn zu taumelte, und er blieb stehen.
Die Gestalt, ein Mann, wie er nun sah, schwankte heftig. Er hielt sich den Kopf und wollte an Klement vorbei.
»Kann ich Ihnen helfen?« Klement hatte gesehen, dass der Mann ganz offensichtlich Probleme hatte, aufrecht zu gehen. Klement, der selbst vor zwei Jahren einen leichten Herzanfall gehabt hatte und seitdem deutlich kürzer getreten war, streckte seinen Arm instinktiv aus, um dem fremden Mann seine Hilfe anzubieten.
Der Mann zischte: »Gehen Sie aus dem Weg! Lassen Sie mich in Ruhe!«
Jürgen Klement trat einen Schritt beiseite, um ihn vorbeizulassen.
Er ärgerte sich, dass der Kerl so unfreundlich war. Er hatte nur helfen wollen. Meine Güte, sogar dafür musste man sich heutzutage schon anpflaumen lassen.
Der Mann rempelte ihn an, als er an
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