Schutzpatron: Kluftingers sechster Fall
Ausgang war zu weit entfernt, und er hätte rückwärts kriechen müssen. Er blickte wieder nach vorn. Wenn er schnell war, dann … Er hielt inne. Erst jetzt merkte er, dass es längst aufgehört hatte zu bröckeln. Die Angst hatte ihm kurzzeitig die Sinne vernebelt. Er atmete auf und kroch weiter. Vorsichtiger und langsamer als zuvor.
Zur gleichen Zeit bahnte sich Magnus mit seiner Truppe den Weg durch den Wald. Zarter besaiteten Menschen wäre es wohl eiskalt den Rücken hinuntergelaufen angesichts der Nebelschwaden, in denen sich ab und zu das kalte Mondlicht fing, und bei den undefinierbaren Geräusche, die zu dieser späten Stunde dunkle Ängste heraufbeschworen. Doch sie hatten wirklich andere Sorgen als die Bedrohlichkeit eines nächtlichen Waldes. Sie hatten nun die Stufen erklommen, die auf die Lichtung führten. Zügig überquerten sie die Wiese, liefen vorbei an dem verfallenen Turm, der bleich wie ein riesiger Totenschädel emporragte. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zum Museumsareal. Magnus drehte sich um und nickte den anderen zu. Sie kannten die toten Winkel der Überwachungskameras, doch für die Wärme- und Bewegungssensoren hatten sie sich etwas Besonderes einfallen lassen müssen: Jeder hielt einen fast körperhohen, selbst gebauten Polyesterschild in der Hand, mit dem sie ihre Körper vor den Sensoren abschirmten. Damit pirschten sie sich in gebückter Haltung an das Museumsgebäude heran. Im Mondschein mussten sie dabei aussehen wie Ritter auf einem nächtlichen Kreuzzug.
Georg hatte es inzwischen geschafft: Vor ihm tauchte im Schein seiner Stirnlampe eine frisch verputzte Wand auf. Er atmete einen Moment durch. Erst jetzt merkte er, dass er schweißgebadet war. Er öffnete den Reißverschluss des völlig verdreckten Rucksacks, den er die ganze Strecke vor sich hergeschoben hatte, und entnahm ihm einen Hammer. Damit begann er zunächst ganz leicht, dann etwas fester gegen die Wand vor ihm zu klopfen. Am Anfang hielt er noch nach jedem Schlag inne, ob sich irgendetwas tun würde, doch seine Schläge verhallten ungehört. Also hämmerte er weiter, bis sich ein kleines Löchlein auftat. Er vergrößerte es schnell, legte den Hammer weg und machte mit den Händen weiter. Die Fliesen ließen sich leicht entfernen. Wunibald hatte gute Arbeit geleistet. Schließlich war das Loch groß genug, er zog sich mit beiden Händen heraus und schwang sich akrobatisch hindurch, landete auf einer Kloschüssel und hielt wieder für einen Moment den Atem an. Doch es war nichts zu hören. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sogar zwei Minuten schneller gewesen war als geplant. Nicht schlecht, dachte er, so hätte er noch Zeit, einem menschlichen Bedürfnis nachzugeben. Er schlich sich aus der Kabine, wobei ihm die Stirnlampe den Weg wies. Hier drin gab es weder Kameras noch Sensoren, weswegen er sie noch benutzen konnte. An einem der an der Wand angebrachten Urinale ließ er der Natur seufzend ihren Lauf. Als er weitergehen wollte, begann es auf einmal heftig zu zischen, und er zuckte derart zusammen, dass sein Herz einen Schlag auszusetzen schien: die automatische Spülung. Allmählich beruhigte er sich wieder, aber er hätte sich ohrfeigen können. Es war leichtsinnig gewesen, was er da gerade getan hatte. Er hoffte nur, dass Magnus nichts davon mitbekommen hatte.
Was war das? , durchfuhr es Magnus. Er stoppte und hielt die Hand hoch, worauf auch alle anderen sich nicht mehr bewegten. Sie hatten nichts bemerkt, aber Magnus verfügte über ein exzellentes Gehör, es war verblüffend, was er alles wahrnehmen konnte. Einmal hatte er das Auto eines Pizzaboten bereits eine halbe Minute vor dessen Eintreffen gehört.
Nachdem er etwa eine Minute regungslos dagestanden hatte, gab er den anderen ein Zeichen, weiterzugehen. Allerdings bewegte er sich nun wesentlich langsamer. Er schien besorgt zu sein. Und genau das machte die anderen nervös.
Georg holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Jetzt galt es, das Programm wie geplant abzuspulen, kühl, mechanisch, ohne nachzudenken. Er knipste seine Lampe aus und öffnete die Tür zum Treppenhaus, wo ihn absolute Schwärze umfing. Doch das war kein Problem: Er sah sich vor seinem inneren Auge durch die Grundrisspläne laufen, die er längst auswendig kannte. Er ging acht Schritte nach rechts bis zur Treppe, stieg die dreizehn Stufen hinauf, verharrte am Treppenabsatz, wandte sich nach rechts und wusste, dass er nun in der großen
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