Schutzwall
offen. Aber es sah nicht mehr durchtrieben aus. Die obere Hälfte von Snows Brust war ein roter, nasser Brei. Blut, Knochensplitter und Fleischstücke bedeckten die Wände und den Spiegel, der ganz hinten hing. Dill kniete sich neben dem Leichnam nieder und versuchte, sich zu erinnern, in welche Tasche Snow die tausend Dollar gesteckt hatte. Er glaubte sich zu erinnern, daß es die linke war. Aber nachdem er seine Hand hineingeschoben hatte, entdeckte er, daß er sich geirrt hatte, versuchte es in der rechten Tasche und fand das Geld. Er steckte es in seine eigene Tasche und erhob sich, wobei ihm bewußt wurde, daß er kein einziges Mal Atem geholt hatte, während er neben Harold Snow kniete. Du wolltest diesen Geruch nicht einatmen, dachte er. Du wolltest nicht das Blut und die Verwesung riechen.
Du wolltest nicht den Geschmack des Todes.
Dill ging zurück ins Wohnzimmer. Cindy McCabe, die noch immer schluchzte, hob ihren Kopf von Anna Maude Singes Schulter. »Ist … ist er …«
»Er ist tot, Cindy«, sagte Dill.
»O Scheiße, o Gott, o Scheiße«, wimmerte sie, ließ ihren Kopf an Anna Maudes Schulter zurücksinken und begann wieder zu schluchzen.
Dill sah sich im Zimmer um und entdeckte Cindy McCabes Portemonnaie oben auf dem Fernsehapparat.
Er ging hinüber, machte es auf, nahm die zehn Hundertdollarscheine aus seiner Tasche, vergewisserte sich, daß kein Blut daran war, und stopfte sie in das Portemonnaie.
Dann ging Dill ans Telefon und rief die Polizei.
Die ersten, die eintrafen, waren zwei junge uniformierte Beamte. Sie kamen mit heulender Sirene und eingeschaltetem Blaulicht. Keiner der beiden konnte viel älter sein als fünfundzwanzig Jahre. Der eine von ihnen hatte eine große, gutgeschnittene Nase. Der andere hatte ein überdimensionales Kinn. Sie nannten Dill ihre Namen, die er sogleich wieder vergaß, und fortan waren die beiden für ihn nur noch Kinn und Nase. Kinn warf einen schnellen Blick auf Harold Snows Leiche und schaute dann schnell wieder weg – als suchte er nach einer Stelle, wo er sich übergeben könnte. Nase starrte fasziniert auf den leblosen Körper. Schließlich sah er zu Dill hoch.
»Abgesägt, wie?«
»Es klang ganz so«, sagte Dill.
»Das muß es gewesen sein«, sagte Nase und wandte sich zu seinem Partner, der mit einemmal außerordentlich interessiert an der kleinen Gruppe von Nachbarn schien, die sich draußen in sicherer, respektvoller Entfernung gesammelt hatten. »Geh raus und sprich mit ihnen«, sagte Nase zu seinem Partner. »Laß dir ihre Namen geben. Frag sie, ob sie irgendwas gehört oder gesehen haben – und sieh auch hinten nach.«
»Und warum das?«
»Vielleicht lungert der mit der abgesägten Flinte noch hinten irgendwo rum.«
»Dieser Jemand ist längst abgehauen.«
»Sieh trotzdem nach.«
Nachdem Kinn zu den Nachbarn hinausgegangen war, sah Nase wieder Dill an. Sie standen noch immer in dem kleinen Vorraum. »Und wer sind Sie?« fragte der Uniformierte.
»Ben Dill.«
»Bendill?«
»Benjamin Dill.«
»So ist’s recht«, sagte Nase und notierte sich den Namen. »Und der da?«
»Harold Snow.«
Nachdem er auch das aufgeschrieben hatte, zeigte der junge Polizist hinüber zum Wohnzimmer. »Und wer ist das, der da drin so viel Lärm macht?«
»Seine Freundin und meine Rechtsanwältin.«
»Ihre Rechtsanwältin?« Einen kurzen Augenblick lang schien Nase mißtrauisch, doch dann ging er stillschweigend darüber hinweg und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Leichnam von Harold Snow zu. Er schien noch immer davon fasziniert. »Was hat er gemacht – der Verstorbene?«
Dill schüttelte seinen Kopf. Es war eine kleine mitleidsvolle Geste. »Er hat nach Einbruch der Dunkelheit die Tür aufgemacht, wie mir scheint.«
Die eigentliche Befragung begann erst, nachdem die Männer vom Morddezernat eingetroffen waren, angeführt von Detective Sergeant Meek und Detective ersten Grades Lowe. Nachdem Dill sich ausgewiesen hatte, sah ihn Meek fragend an. »Felicitys Bruder?«
Dill nickte. »Sie haben sie gekannt?«
Meek starrte gedankenverloren auf den Boden, bevor er antwortete. Dann sah er wieder zu Dill hoch und sagte: »Ja, ich hab sie ziemlich gut gekannt. Sie war – also, Felicity war okay.«
Es war dann Meek, der die Befragung in die Hand nahm, und Detective Lowe erledigte das Technische.
Meek war ein langer, beinahe dürrer Mann von Ende Dreißig. Lowe konnte nicht älter sein als ein- oder zweiunddreißig, er war etwas mehr als mittelgroß und
Weitere Kostenlose Bücher