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Schwaben-Angst

Schwaben-Angst

Titel: Schwaben-Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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Ann-Katrins Nummer.
    »Wie geht es dir?«, fragte er.
    »Viel besser als gestern.« Ihre Stimme ließ neuen Lebensmut erkennen.
    »Die Schmerzen sind weg?«
    »Fast.« An ihrem Zögern merkte er, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte. »Kein Vergleich zu gestern. Ich fühle mich wie neu geboren.«
    »Hoffentlich kann ich das glauben.«
    »Du kannst es. Wir wollen nach Tübingen. Theresa zeigt uns ihr neues Zimmer. Sie hat uns vorhin angerufen.«
    Braig kannte Ann-Katrins Schwester, hatte sie mehrfach getroffen. »Das ist sehr gut«, sagte er, »du traust es dir zu?«
    Ihre Stimme klang fröhlich. »Es lenkt mich ab. Vielleicht ist es das, was mir fehlt. Immer nur sitzen und darauf warten, dass es irgendwie besser wird, kann nicht alles sein.«
    Er verstand, was sei meinte, musste ihr insgeheim Recht geben. »Wann fahrt ihr?«
    »Nachher, mit dem nächsten Zug. Du hast keine Zeit?«
    »Tut mir Leid. Ich bin gerade unterwegs nach Ludwigsburg. Du hast die Zeitung schon gelesen?«
    »Der zweite Blausäure-Tote?« Sie schwieg einen Moment, seufzte dann laut. »Vielleicht solltest du doch den Beruf wechseln.«
    Manchmal, in besonders unangenehmen Momenten, war es Braig danach. Alles liegen und stehen lassen, die Ermittlungen zur Seite schieben, ein neues Leben beginnen. Fernab von Polizei und Kriminalität. Er gab keine Antwort, wusste, dass jeder Gedanke in diese Richtung vorerst Utopie bleiben würde.
    »Nimm dir ein Beispiel an Theresa«, sagte Ann-Katrin, »sie wagt es wirklich.«
    »Sie ist ein Phänomen. Ich bewundere sie ehrlich. Richte ihr viele Grüße aus.«
    Theresa hatte nach dem Abitur ein BA-Studium der Betriebswirtschaft beim Daimler-Konzern absolviert, danach als Jung-Managerin mehrere Jahre im Dienst der Firma gearbeitet, gut bezahlt, mit großen Karriere-Chancen, wie er wusste. Tätigkeiten in Stuttgart waren Monate in Asien gefolgt, später war sie in die USA gewechselt. Dann, an ihrem 32. Geburtstag, hatte sie alles hingeworfen und den ersten Schritt zu einem neuen Leben getan.
    »Dieser Konzern war mein Leben«, hatte sie ihm erklärt, wenige Wochen nach Ann-Katrins schwerer Schussverletzung, »aber das kann nicht alles sein.«
    Trotz vieler Versuche ihrer Bekannten, sie zur Besinnung zu rufen und ihr die Konsequenzen ihres Handelns klarzumachen, hatte sie sich nicht davon abbringen lassen, sich in Stuttgart ins Sprachenkolleg einzuschreiben und Altgriechisch und Hebräisch zu lernen – als Vorbereitung für ihr Theologiestudium, das sie jetzt im Oktober in Tübingen aufnehmen wollte. Braig bewunderte den Mut und die Entschlusskraft, mit der sie ihre Entscheidung ohne jedes Straucheln durchgesetzt hatte.
    Er wünschte Ann-Katrin einen von schmerzfreien, abwechslungsreichen Tag, beendete das Gespräch, als der Zug Ludwigsburg erreichte. Der Weg zu Hemmers Firma war nicht weit, gerade mal sieben-, achthundert Meter vom Bahnhof entfernt. Er spannte seinen Schirm auf, weil es wieder leicht zu regnen begonnen hatte, wich Passanten aus, die ihm auf dem schmalen Bürgersteig entgegenkamen.
    Das Gebäude, in dem Hemmers Firma residierte, fiel auf durch eine erst vor kurzem von Grund auf erneuerte Fassade: ockergelbe Wände, sandsteinfarbene Erker, die gesamte Front im neobarocken Stil. Braig las die Aufschrift
Bernhard Hemmer Fernsehproduktion
, drückte auf die Glocke.
    Die Stimme aus dem Lautsprecher krächzte erbärmlich. Er konnte nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, stellte sich vor, hörte das Surren des Türöffners.
    Das Büro lag im ersten Obergeschoss. Braig stieg die Treppe hoch, wurde schon an der breiten Milchglastür von einer jungen Frau empfangen. Sie war höchstens Mitte zwanzig, trug eine knallenge, weiße Bluse und einen kurzen, schwarzen Lederrock, dazu gepunktete Nylons und grellrote Slipper. Wahrscheinlich entsprach dieses Outfit der Fernsehwelt, die zu repräsentieren ihr beruflich aufgetragen war. Was nicht passte, waren ihre Frisur und ihr Gesicht. Die kurzen, blondierten Haare hingen strähnig und ungeordnet in ihre Stirn, von ihren Augen strömte ein von der Wimperntusche dunkelblau gefärbtes Rinnsal quer über die Backen in Richtung Kinn. Ihr Gesicht zeigte Falten und einen gequälten Ausdruck. Sie war offensichtlich ohne jede Vorwarnung vom Tod ihres Arbeitgebers überrascht worden.
    »Nicole Lieb«, nuschelte sie in Braigs Richtung, hielt ihm die Tür auf, ließ ihn eintreten, lief dann, nachdem er sich vorgestellt und ausgewiesen hatte, vor ihm

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