Schwaben-Wut
Hitze und der späten Stunde völlig den Verstand verloren und das Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Dabei gab er Informationen preis, die nach Auffassung der Kriminaltechniker allein der Mörder wissen konnte.
Braig ersparte es sich, weiter in die Materie einzudringen, legte die Akten zur Seite. War es normal, überlegte er, dass ein Jugendlicher, gerade mal an der Schwelle zum Erwachsensein, mit solch sinnloser Gewalt um sich schlug, ja tötete? Wie konnte ein Junge sich so rasch verwandeln, dass er ein junges Mädchen, mit dem er vorher geflirtet, gescherzt, sich vergnügt hatte, in einer Orgie des Wahnsinns nicht nur tötete, sondern vorher auch noch quälte und vergewaltigte? Gab es das in früherer Zeit auch schon, dass ein junger Mensch in kurzen Momenten zu solch einer Bestie verkam?
Hatte Andreas Stecher so viele aggressive Gene, so viel bösartiges Potential geerbt, dass man bei ihm früher oder später mit dieser Entwicklung rechnen musste? Oder lagen die Fehler in seiner Erziehung, am nicht existenten Vater, an einer überforderten Mutter?
Braig wusste, dass er ohne weitere Informationen zu Stechers Lebenslauf keine Antworten auf diese Fragen finden würde. Eine Ursache allein reichte ohnehin nie zur Erklärung eines Verbrechens aus. Fast alle Gewalttaten resultierten aus unglücklichem Zusammentreffen verschiedener Faktoren, die sich gegenseitig verstärkten. Und so unmenschlich und unbegreifbar Stechers Verbrechen ihm auch war, durfte man es nach Braigs Auffassung nicht isoliert betrachten, sondern musste es im Zusammenhang mit der ständig wachsenden Zahl jugendlicher Gewaltakte sehen.
Fakt war – das bewiesen nicht nur Braigs alltägliche Erfahrungen als Kommissar, sondern objektiv nachprüfbar auch die offiziellen Kriminalitätsstatistiken – dass die Zahl jugendlicher und sogar kindlicher Straftäter speziell männlichen Geschlechts seit Jahren systematisch anstieg – im ganzen Land, aber auch im Schwäbischen. Allein in der Landeshauptstadt explodierte die Anzahl jugendlicher Gewaltverbrecher in den letzten Jahren um nahezu 65 Prozent. Fast jeden Tag stellten seine Kollegen Baseballschläger, Schlagringe, Messer und Schusswaffen sicher, aus der Erfahrung heraus, dass diese Objekte nicht nur zur Demonstration mitgeführt, sondern schon beim kleinsten, oft bewusst provozierten Konflikt eingesetzt wurden. Berichte darüber waren keine von den Medien geschürte Hysterie, sondern leider Realität.
Braig hegte keinen Zweifel, dass die Verrohung eines immer größeren Teils junger Menschen von den gesellschaftlichen Strukturen begünstigt und gefördert wurde. Wenn deutlich den Erfolgreichsten, Stärksten, und damit oft auch Unmoralischsten und Rücksichtslosesten Anerkennung zuteil wurde, konnte es nicht ausbleiben, dass die Heranwachsenden sich an diesem Muster orientierten. Wenn in einem Gemeinwesen nur noch steigenden Aktienkursen gehuldigt, die Gewinnprognosen multinationaler Konzerne wie göttliche Offenbarungen verehrt und in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestellt wurden, zugleich aber alle Bemühungen engagierter Idealisten, Rücksicht auf Mensch, Natur und Umwelt zu nehmen, der Verachtung preisgegeben waren, war es nur folgerichtig, dass schon junge Menschen einen schnell zu erlangenden Gewinnzuwachs als zentralen Inhalt ihrer Existenz betrachteten.
Profit und Fun waren Ziele der Spaßgesellschaft. Rücksicht und Verantwortung Vorstellungen, die man längst in die hinterste Mottenkiste verbannt hatte. Was Wunder, wenn Jugendliche sich ihren Spaß dort holten, wo es ihnen gerade beliebte – ganz nach dem Vorbild der Erwachsenen, nur mit dem Einsatz der Ellenbogen, allein nach dem Gesetz des Stärkeren?
9. Kapitel
Das Haus Michael Eidings lag am Rand Heilbronns, etwas erhöht am Hang eines weitläufigen Weinbergs. Eine breite, sanft ansteigende Rasenfläche, von mehreren Blumenrabatten unterteilt, grenzte es von der Straße ab. Hinter dem Haus führte ein langgestreckter Garten direkt zu Weinstöcken.
Eidings Gesicht war dunkelrot angelaufen vor Wut. Er hatte auf das Erscheinen der für die in seiner Abwesenheit durchgeführte Hausdurchsuchung verantwortlichen Kommissarin gewartet, um all seinen Zorn und seine Empörung über dieses Geschehen loszuwerden.
Neundorf ließ sich vom Verhalten des Mannes nicht beeindrucken. »Hätten Sie eine Adresse hinterlassen, irgendeinen Anhaltspunkt, wo wir Sie finden konnten, wäre uns allen diese Arbeit erspart geblieben.
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