Schwaben-Zorn
Birkach war ihm eingefallen, dass er seit der Operation immer noch kein Wort mit ihr gesprochen hatte. Am Morgen, von seinem privaten Anschluss aus, war er zwar auf ihrer Station vorstellig geworden, hatte jedoch von der betreuenden Schwester erfahren, dass sie noch in tiefem Schlaf liege.
Braig spürte sein schlechtes Gewissen: Im Eifer der Ermittlungen hatte er Ann-Katrin vergessen. Im Verlauf der zurückliegenden Stunden war es ihm so ergangen wie in all den Monaten und Jahren zuvor: Kaum hatte er sich in eine der komplizierten Untersuchungen vertieft, war er seiner beruflichen Verpflichtung mit Haut und Haaren verfallen. Alles Private musste zwangsläufig zurücktreten. Wahrscheinlich, versuchte er sich selbst zu rechtfertigen, waren die Anforderungen seines Berufes ohne diese Konzentration nicht zu leisten. Anstatt mit schlechtem Gewissen herumzulaufen, war es jetzt sinnvoller, sich um Ann-Katrin zu kümmern.
Er lief die Treppen des Klinikums hoch, sah die betreuende Schwester schon von weitem. Sie suchte gerade verschiedene Medikamente zusammen, ordnete sie in schmale rechteckige Behälter ein. Als er sie fast erreicht hatte, drehte sie sich um, erkannte ihn auf den ersten Blick. »Sie ist wach«, rief sie, »bestimmt seit einer halben Stunde.« Sie zeigte auf den Eingang zur Intensivstation.
Braig begrüßte sie freundlich, dankte für ihre Information. »Dann komme ich gerade recht.«
Die Frau nickte. »Ihre Mutter ist ebenfalls da.«
Er öffnete die Tür. Sofort umfing ihn wieder die vom Vorabend bekannte, stets aufs Neue bedrückende Atmosphäre. Nebeneinander aufgereihte Betten mit scheinbar leblosen Körpern, bleiche Gesichter, unzählige Schläuche und Leitungen, Computer-Bildschirme, dazu das unablässige Fiepen und Pulsieren verschiedener Pumpen. Obwohl er Ann-Katrins vor Freude aufblühendes Gesicht schon beim Eintreten wahrnahm, breitete sich wieder eine Gänsehaut auf seinem Rücken aus.
Er schloss die Tür, trat an ihr Bett, begrüßte sie und ihre Mutter, die auf einem Hocker unmittelbar daneben saß, beugte sich dann zu Ann-Katrin nieder, küsste sie auf den Mund.
Sie erwiderte seinen Kuss, strahlte übers ganze Gesicht. »Ich glaube, das Schlimmste ist vorbei«, hauchte sie. Ihrer Stimme war deutlich anzumerken, wie viel Kraft die Operation sie gekostet hatte.
»Du hast keine Schmerzen mehr?«
»Sie sind auszuhalten. Hauptsache, die Sache ist vorbei.«
Er nickte, drückte ihre Hand. »Ich war gestern schon da«, sagte er, »und vorgestern auch. Aber du hast immer geschlafen.«
»Ich weiß. Die Schwester hat mir alles erzählt. Sie meint, der Schlaf sei besser als jede Medizin.«
Zwei Betten weiter ertönte plötzlich ein schrilles Heulen. Braig sah erschrocken auf, bemerkte das Blinken auf dem Monitor.
»Keine Aufregung«, sagte Ann-Katrins Mutter, »die Schwester muss den Beutel wechseln.«
»Du kennst dich aus?«
»Ich saß gestern den halben Tag hier. Was glaubst du, wie oft die Sirene heulte.«
Die Schwester kam in den Raum, nickte ihnen zu, lief zwei Betten weiter. Der nervenaufreibende Ton verstummte.
»Wie lange musst du hier bleiben?«, fragte er.
»Wenn alles gut geht«, erklärte Ann-Katrins Mutter, »kommt sie morgen auf die normale Station.«
Die Schwester begab sich in den rückwärtigen Teil des großen Raumes, kam mit einem durchsichtigen, mit farbiger Hüssigkeit gefüllten Kunststoffbehälter zurück, wechselte den leeren Beutel aus.
»Wie geht es dir?«, fragte Ann-Katrin.
Braig holte tief Luft, versuchte, sich ein Lächeln aufzuzwingen. »Müssen wir wirklich darüber reden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist es so schlimm?«
»Die Welt ist verrückt.« Er wollte nicht genauer auf seine aktuelle Ermittlung eingehen, nicht jetzt, wo Ann-Katrin Aufmunterung, Zuspruch, freundliche Worte, auf keinen Fall aber die Beschreibung des nächtlichen Geschehens in Waiblingen benötigte.
»Du bist nicht weitergekommen?«, fragte ihre Mutter.
»Eine neue Spur«, erwiderte er, »jedenfalls sieht es so aus. Ob wirklich was dran ist, weiß ich noch nicht.« Er zuckte mit der Schulter. »Es ist mühsam wie immer.«
Sie verstand seine zögernd vorgetragene Antwort, half ihm, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sie sprachen von Theresas Studium, entwickelten Pläne, nach Ann-Katrins Genesung gemeinsam in Urlaub zu fahren, hörten sich längst bekannte Anekdoten aus der Kindheit der Mutter an. Kurz nach zwölf verließ er die Klinik.
* * *
Als er im Amt
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