Schwaben-Zorn
seiner Kollegin. So sehr sie sich bemühten, Meyers Verhalten passte immer genauer zu dem, was er selbst ausgesagt hatte. War er also wirklich unschuldig? Oder so abgebrüht, dass er seiner neuen Freundin Minuten nach der schrecklichen Tat völlig normal und unberührt hatte gegenübertreten können?
»Sein später Anruf und der Besuch mitten in der Nacht – Sie waren nicht überrascht?«
Serpil Ince fuhr sich über die Stirn, wischte sich ungeduldig die Haare aus dem Gesicht. »Er kommt, wann er will. Besser gesagt, wenn meine Eltern nicht zu Hause sind. Schon immer. Das bin ich so gewohnt.« Der Hauch von Resignation in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie sagte die Wahrheit, war sogar bereit, ihre Wunden offen zu legen.
»Darf ich fragen, wie lange er bei Ihnen blieb?« Braig wusste, wie indiskret seine Frage war, rang sich trotzdem dazu durch. Sie mussten die Stunden bis nach Mitternacht in ihre Überlegungen einbeziehen.
»Kurz nach fünf«, erklärte Serpil Ince. »Er hatte Angst, dass mein Vater überraschend auftauchen könnte. Um halb sechs kommt der erste Zug aus Stuttgart.«
»Das heißt, er war die ganze Nacht von 22.15 Uhr an bei Ihnen. Ohne Unterbrechung.«
Die junge Frau sah Neundorf offen in die Augen. »Von Montag auf Dienstag, ja. Weshalb wollen Sie das eigentlich so genau wissen?«
23. Kapitel
Die Rückfahrt von Böblingen hatten sie fast die gesamte Zeit über schweigend verbracht. Braig und Neundorf waren zu müde, zu abgekämpft und frustriert, um sich über die Konsequenzen ihres Gesprächs mit Serpil Ince lange austauschen zu wollen.
Dass die junge Frau gelogen, sie über die Anwesenheit Lorenz Meyers von Montag- auf Dienstagnacht bewusst getäuscht haben sollte, schlossen beide aus – zu unwahrscheinlich schien ihnen diese Hypothese. All ihre Erfahrung als langjährige Ermittler sprach dafür, dass sie die Wahrheit gesagt, die Darstellung des Gebrauchtwagenhändlers somit komplett bestätigt hatte. Es war klar: Es schränkte die Spanne, in der Meyer den Mord begangen haben konnte, auf die Zeit vor 22 Uhr ein – eine Möglichkeit, die der Gerichtsmediziner zwar nicht ausschließen, der er jedoch nur schweren Herzens zustimmen wollte.
»Jetzt hängt alles von der DNA-Analyse ab«, war sich Braig sicher, als sie Böblingen verließen. Fiel das Ergebnis negativ aus, würde sich der Staatsanwalt erst gar nicht auf den Weg machen, um beim Untersuchungsrichter einen Haftbefehl für Meyer zu beantragen.
»Wenn wir Pech haben, ist der Kerl heute Abend wieder frei«, kommentierte Neundorf.
»Vielleicht stammt das Haar doch von ihm. Dann muss er uns einiges erklären.«
Das Fax mit Rauleders Unterschrift lag schon in Braigs Büro.
Betrifft: DNA-Abgleich des Haares, das an der Kleidung von Christina Banglers Leiche entdeckt wurde, mit Lorenz Meyer.
Die Probe ist negativ. Das Haar stammt nicht von Meyer.
Staatsanwalt Bockisch ist informiert.
Lars Rauleder
»Und jetzt?«, fragte Neundorf.
»Der Gerichtsmediziner. Er muss sich die Sache noch einmal genauer vornehmen. Wenn wir ihn darüber informieren, dass Meyer den Mord nur vor 22 Uhr begangen haben kann, korrigiert er vielleicht seine Aussage.«
Braig wusste selbst, dass seine Idee irgendwie bockig klang. Kein Pathologe gab eine Verlautbarung über die potentielle Tatzeit zu Protokoll, bevor er sich seiner Sache nicht weitgehend sicher war. Darauf zu hoffen, der Arzt könne seine Aussage noch grundlegend ändern, widersprach all seiner Erfahrung als Polizeibeamter. Nein, von dieser Seite her war wenig Hilfe zu erwarten.
Neundorfs Mienenspiel fiel entsprechend skeptisch aus. »Du weißt selbst, wie groß die Chancen sind, dass er das tut.«
Er nickte, massierte mit beiden Händen seine Schläfen. Die Müdigkeit drohte ihn vollends zu übermannen. Er spürte die bohrenden Schmerzen in seinem Kopf, sah sich kaum noch imstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Vielleicht war es doch dieser Böhmer«, hoffte Neundorf, »warum versteckt sich der Kerl immer noch?«
Braig lief zum Waschbecken, drehte den Hahn auf, klatschte sich wieder kaltes Wasser ins Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich fürchte, ich weiß heute überhaupt nichts mehr.«
»Ich gebe den Kollegen Bescheid«, erklärte die Kommissarin, »sie sollen Meyer freilassen. Alles andere ist sinnlos.«
Sie wollte rausgehen, als das Telefon läutete. Braig wischte sich sein Gesicht ab, trat an den Schreibtisch. Er schaute auf die Uhr. Kurz vor Neun war. Was gab es jetzt
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