Schwanengesang (German Edition)
Nachthemd und darüber einen weißen Bademantel, dessen Gürtel sie gerade enger zog.
»Was soll das, Herr Hagen? Sie wecken ja die halbe Nachbarschaft auf!«
Marc setzte ein bedauerndes Gesicht auf. »Tut mir leid, falls ich Sie gestört haben sollte, aber es ist wirklich äußerst dringend. Ich schlage vor, Sie lassen mich für ein paar Minuten in Ihre Wohnung und dann bin ich auch schon wieder weg.«
Charlotte Vollmer warf einen raschen Blick über die Schulter zurück in ihr Haus. Am liebsten würde sie mir wie Bea die Tür vor der Nase zuknallen, dachte Marc. Na ja, immerhin hat sie noch nicht die Polizei gerufen.
»Es ist wirklich wichtig«, versuchte Marc noch einmal ihr auf die Sprünge zu helfen. »Bei meinem letzten Besuch haben Sie mir ausdrücklich angeboten, ich könne jederzeit wieder vorbeikommen.«
Das schien den Ausschlag zu geben, denn Charlotte Vollmer rang sich tatsächlich zu einem Lächeln durch. »Habe ich das wirklich gesagt? Vielleicht sollten Sie nicht alles so wörtlich nehmen. Aber gut, kommen Sie rein.«
Marc bedankte sich mit einem Kopfnicken und folgte ihr durch den Flur in das Wohnzimmer, das er schon von seinem ersten Besuch kannte. Der Fernseher lief, war aber auf stumm geschaltet.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Charlotte Vollmer. »Und dann geben Sie mir bitte ein paar Minuten. Ich möchte mir etwas anderes anziehen. Kann ich Ihnen vorher etwas zu trinken anbieten?«
»Nein, danke. Und lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Nachdem Charlotte Vollmer ihn allein gelassen hatte, verfolgte Marc für einen Moment den Spielfilm, der ohne Ton lief. Kevin Costner auf einem Segelboot. Und dann erkannte er auch den Film: Message in a bottle , die Verfilmung eines Romans von Nicholas Sparks. Einer von Melanies Lieblingsfilmen. Vor einigen Monaten hatte Melanie ihn mehr oder weniger dazu genötigt, den Film mit ihr zusammen anzuschauen. Marc war mittendrin eingeschlafen und erst kurz vor dem Ende wieder aufgewacht. Aber irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, nichts Wesentliches verpasst zu haben.
Marc blieb noch ein paar Sekunden auf dem Sofa sitzen, dann stand er auf und schlenderte durch das Zimmer. An der Wand hingen ein paar Gemälde, die er flüchtig betrachtete, auf einem Sideboard standen Dutzende Fotos in silbernen Rahmen. Marc schaute sie sich der Reihe nach an: Charlotte Vollmer allein, Charlotte Vollmer mit Kindern, Menschen, die Marc völlig unbekannt waren. Wahrscheinlich ihre engsten Freunde und Verwandten, vermutete Marc.
Aber dann fiel ihm auf, dass ein Foto fehlte: eine Aufnahme von Johanna Reichert, der angeblich besten Freundin, die Charlotte Vollmer immerhin als Begünstigte einer Lebensversicherung über 2,8 Millionen Euro eingesetzt hatte. Vielleicht gibt es kein Foto von ihr, weil Charlotte Vollmer sie auf dem Gewissen hat und ihren Anblick deshalb nicht ertragen kann, schoss es Marc durch den Kopf. Vielleicht gab es aber auch eine andere, viel harmlosere Erklärung und auf Charlotte Vollmers Nachttisch standen gleich mehrere Erinnerungsfotos von Johanna Reichert.
Marc wollte seinen Rundgang gerade fortsetzen, als er wie angewurzelt stehen blieb und die Stirn runzelte. Er drehte sich wieder um und nahm ein Foto zur Hand. Es zeigte eine lächelnde Charlotte Vollmer vor einem tiefblauen Meer und zwei weißen, griechischen Säulen. Marc erkannte den Hintergrund des Fotos: Es war der gleiche wie auf dem Foto, das die Polizei in Melanies Nachttisch gefunden hatte, allerdings war auf der Aufnahme nicht Charlotte Vollmer, sondern Heinen zu sehen gewesen. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen, die angeblich nichts miteinander zu tun hatten, sich ganz zufällig zu unterschiedlichen Zeitpunkten vor demselben Hintergrund fotografieren ließen?
Nein, beschloss Marc, einen solchen Zufall gab es nicht. Die beiden Fotos mussten an demselben Tag und bei derselben Gelegenheit entstanden sein. Was wiederum nur einen Schluss zuließ: Heinen und Charlotte Vollmer waren zusammen im Urlaub gewesen. Und auch das ganz gewiss nicht zufällig. Für dieses Foto gab es also nur eine logische Erklärung: Entgegen Charlotte Vollmers Beteuerungen kannten sich die beiden nicht nur oberflächlich. Dieses eine Foto war natürlich noch kein Beweis. Aber wenn die beiden gemeinsam Urlaub gemacht hatten, gab es mit Sicherheit weitere Aufnahmen, auf denen alle beide zu sehen waren.
Marc sah sich hastig um. Auf der Anrichte standen keine Fotos von Heinen. Fotoalben waren auch nicht
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