Schwanengrab
für Veronikas Tod.
Christoph nickte nachdenklich. »Die Gerichtsmediziner haben keinerlei Fremdeinwirkung festgestellt. Auch sonst keine Substanzen in ihrem Körper oder so. Es gab keine verdächtigen Spuren an der Absturzstelle. Keine Fußabdrücke von einem anderen, keine Fingerabdrücke, keine Kampfspuren. Weder an ihrem Körper noch an der Stelle, wo sie abgestürzt ist. Nichts, was auf ein Verbrechen hindeuten würde. Die Schulpsychologin hat uns alles erklärt. Wahrscheinlich hat Veronika aufgrund der starken allergischen Reaktion die Orientierung verloren und ist zur Schlucht gelaufen statt in die andere Richtung.« Er blickte mich wieder lange an.
»Und das Gegenmittel? Neela behauptet, Veronika hätte es sofort genommen, aber es hat nicht gewirkt.«
Christoph stieß einen Seufzer aus. »Alles, was ich dir erzähle, weiß ich von der Schulpsychologin. David hatte an dem Tag im Wald das Fläschchen gefunden, kurz bevor sie Veronikas Leiche in der Schlucht entdeckt hatten. Es lag in der Nähe ihrer Tasche, irgendwo auf dem Boden, war offen und leer. Aber Veronika konnte das Mittel offensichtlich nicht mehr vollständig einnehmen. Bei der Obduktion fand man nur eine geringe Menge davon in ihrem Körper. Zu wenig, um den allergischen Schock abzuhalten. Vermutlich hat sie etwas verschüttet oder ihr ist das Fläschchen aus der Hand gefallen, als der Schock einsetzte. So hat es die Polizei jedenfalls bestätigt.«
»Siehst du? Da hast du doch die Beweise, dass Veronikas Tod ein Unfall war. Ein schrecklicher Unfall! Es ist ganz normal, nach einem Schuldigen zu suchen, auch wenn es nicht immer einen Schuldigen gibt. Aber jetzt ist es vorbei. Veronika ist tot und nichts und niemand kann sie mehr zurückholen oder das, was geschehen ist, ungeschehen machen. Ich weiß, wie es euch gegangen ist. Wenn ein Mensch von einer Sekunde auf die andere aus dem Leben gerissen wird, dann ist alles nicht mehr so, wie es war. Und man kann nichts dagegen machen als versuchen, damit zu leben, damit klarzukommen, ohne selbst kaputtzugehen. Es tut verdammt weh, aber das Leben geht weiter. Und irgendwann ist es auch erträglich.« Letzteres hoffte ich zumindest. Ich wusste nur zu gut, wovon ich sprach.
Kapitel 30
Ich blickte an Christoph vorbei zum Fenster. Es war einer dieser letzten Septembertage, an denen der Wetterbericht sich mal wieder gründlich geirrt hatte. Die angekündigten Sonnenstrahlen konnten sich nicht durch den dichten Hochnebel kämpfen. Es war noch immer feucht und kühl.
Die Erinnerungen an meine Mutter schwappten über mich, wie die Wellen am Strand, wenn der Wind besonders heftig vom Meer herwehte. Ich zwinkerte, um die Tränen wieder zu verscheuchen.
Christoph zog mich nach unten auf den Boden und bereitwillig setzte ich mich neben ihn in den leeren Flur.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, forderte er mich auf.
Ich schüttelte den Kopf. »In Berkeley ist es schön«, begann ich nachdenklich, »sogar im Herbst scheint die Sonne oft. Es ist warm.«
In meinen Gedanken war ich in Kalifornien. Am Strand, bei meinen alten Freunden, die ich wirklich vermisste.
»Im Juni, Juli, August ist es bei uns auch warm«, hörte ich ihn.
Wusch! Ich war wieder da – zurückgeflogen aus Berkeley, gelandet in dem düsteren Flur direkt neben Christoph.
»Ich mag den Juni nicht besonders«, brach es aus mir heraus, obwohl ich das eigentlich gar nicht hatte sagen wollen.
Er fragte nicht, sah mich nur stumm von der Seite an.
Dann sprudelte ich los. Alles, was sich seit Monaten in mir aufgestaut hatte, kam jetzt heraus.
»Es war heiß! Schon am frühen Morgen. Richtig tolles Wetter. Der Unterricht hatte noch gar nicht begonnen. Wir standen alle im Klassenzimmer und überlegten uns gerade, was wir am Nachmittag unternehmen sollten: Raus auf die Bay? Jester hatte einen neuen Jet-Ski. Oder doch lieber in den Coffee-Shop? Die Glocke schrillte und wie immer ließen wir uns Zeit, auf unsere Plätze zu kommen. Mr Jones war noch gar nicht da. Das war nicht seine Art. Er begann immer pünktlich auf die Sekunde mit dem Unterricht. Dann ging die Tür auf. Er kam herein und sah mich an. Zwei Cops standen bei ihm. Mir wurde übel, obwohl ich gar nicht wusste, warum. Etwas stimmte nicht und ich spürte plötzlich diese schreckliche Angst. Ich sah nur noch Mr Jones und die Sheriffs. Er winkte mich zu sich. Dann war alles wie in einem Film. So ein Film, den man immer und immer wieder ablaufen lässt: vor – zurück – vor – zurück
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