Schwarz-Indien
...«
Harry war stehengeblieben. Er horchte.
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»Was ist, Harry?« fragte der Ingenieur.
»Ich glaubte hinter uns Schritte zu hören«, antwortete
der junge Mann und lauschte gespannter.
Nach einer Weile sagte er: »Nein, ich habe mich doch
wohl getäuscht. Stützen Sie sich auf meinen Arm, Mr. Starr,
benutzen Sie mich wie einen Stock ...«
»Nun, ein solider Stock, Harry«, fiel ihm James Starr ins
Wort. »Du bist doch der bravste Bursche auf der Welt!«
Schweigend wanderten beide durch den weiten dunklen
Gang dahin.
Harry wandte sich mehrmals rückwärts, um entweder
ein entferntes Geräusch wahrzunehmen oder den Schim-
mer eines Lichts zu sehen.
Aber vor und hinter ihm blieb alles finster und still.
5. KAPITEL
Die Familie Ford
10 Minuten später verließen sie endlich den Hauptstollen.
Der junge Bergmann und sein Begleiter hatten eine
Lichtung erreicht – wenn man diesen Namen einer großen,
dunklen Höhle beilegen darf, die des Tageslichts allerdings
nicht ganz vollständig entbehrte. Durch die Öffnung eines
verlassenen, die ganzen oberen Erdlagen durchdringenden
Schachts gelangte ein bescheidener Lichtschimmer auch
bis in diese Tiefe. Durch denselben Schacht vollzog sich
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auch die Lufterneuerung der Grube Dochart, da die wär-
mere Luft des Innern durch diesen hoch hinauf führenden
Schacht abfloß.
Ein wenig Luft und Licht drang also selbst unter dieses
mächtig darüber lagernde Schiefergestein bis zu jener Lich-
tung.
An derselben Stelle arbeiteten früher mächtige, zum
Betrieb der Grube Dochart gehörende Maschinen; – jetzt
hauste seit 10 Jahren schon Simon Ford samt seiner Fami-
lie in dieser unterirdischen, aus dem Schieferfelsen gebro-
chenen Wohnung, die der alte Obersteiger mit Vorliebe sein
›Cottage‹ nannte.
Im Besitz einer gewissen Wohlstands, den er einem lan-
gen, arbeitsamen Leben verdankte, hätte Simon Ford recht
gut unter der Sonne des Himmels, inmitten lachender
Bäume in einer beliebigen Stadt des Landes wohnen kön-
nen; er und die Seinigen zogen es jedoch vor, das Kohlen-
bergwerk nicht zu verlassen, wo sie sich bei ihren überein-
stimmenden Gedanken und Neigungen glücklich fühlten.
Ja, ihr 1.500 Fuß unter dem Boden Schottlands versenktes
Cottage gefiel ihnen ganz besonders. Abgesehen von man-
chen anderen Vorteilen hatten sie hier nicht den Besuch der
Agenten des Fiskus, der ›Stentmaters‹ zu befürchten, welche
die lästige Kopfsteuer eintreiben.
Zu jener Zeit trug Simon Ford, der alte Obersteiger der
Grube Dochart, noch ungebeugt die Last seiner 60 Jahre.
Groß, stark und gut gewachsen, konnte er für einen der bes-
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ten ›Sawneys‹* des Bezirks gelten, der den Regimentern der
Highlander so manchen schönen Rekruten zuführte.
Simon Ford stammte aus einer alten Bergmannsfamilie,
deren Stammbaum hinaufreichte bis in die ersten Zeiten, als
man anfing, die Kohlenlager Schottlands auszubeuten.
Ohne mit Hilfe der Archäologie nachzuweisen, ob die
Griechen und Römer schon die Steinkohle kannten, ob
die Chinesen schon vor der christlichen Zeitrechnung
ihre Kohlenschätze benutzten; ohne darüber zu grübeln,
ob der mineralische Brennstoff seinen französischen Na-
men (houille) von dem eines Hufschmiedes Houillos, der
im 12. Jahrhundert in Belgien lebte, entlehnt hat, so kann
man doch mit Bestimmtheit behaupten, daß die Kohlenbe-
cken Großbritanniens zuerst in geregelten Betrieb genom-
men wurden. Schon im 11. Jahrhundert verteilte Wilhelm
der Eroberer die Ausbeute der Bergwerke von Newcastle
unter seine Waffengefährten. Aus dem 13. Jahrhundert exis-
tiert ferner eine von Heinrich III. ausgefertigte Konzession
zum Abbau der ›Meerkohle‹. Gegen Ende desselben Jahr-
hunderts werden auch schon die Kohlenfelder von Schott-
land und des Distrikts von Galles erwähnt.
Zu jener Zeit stiegen die Vorfahren Simon Fords zuerst
in das Innere der kaledonischen Erde hinab, um sie vom
Vater auf den Sohn niemals wieder zu verlassen. Alle wa-
ren nur einfache Arbeiter und fast wie Galeerensklaven an
* Der ›Sawney‹ ist der Schotte, wie John Bull der Engländer und
Paddy der Ire.
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den Abbau der Kohlen gefesselt. Man huldigt sogar der An-
schauung, daß die Bergleute der Kohlenminen, ebenso wie
die Salzsieder jener Zeit, wirklich Sklaven gewesen seien.
Noch im 18. Jahrhundert war diese Ansicht in Schottland so
verbreitet, daß man während des
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