Schwarz
hier, hatten hier ihre Kinder großgezogen und waren alt geworden. Und nun, an der Schwelle zur Rente, drohte man ihnen alles wegzunehmen.
»Ich brauche sämtliche Unterlagen zu den Finanzen der Firma, ich gehe sie durch und versuche irgendeine Lösung zu finden. Habt ihr etwas gegessen, soll ich etwas machen?«, fragte Kati Soisalo. Sie überlegte fieberhaft, ob Jukka Ukkola es irgendwie hätte zuwege bringen können, dass der Kredit fällig und auch der Vertrag mit der Warenhauskette aus St. Petersburg gekündigt wurde. Es war einfach nicht zu glauben, dass Vater und Mutter zufällig am selben Tag zwei derart katastrophale Nachrichten bekamen. Sie befürchtete das Schlimmste und beschloss, dass Jukka Ukkola diesen Krieg nicht gewinnen würde.
***
Dr. med. Ulla Talviaho saß in ihrem Sprechzimmer in der zweiten Etage des Ärztezentrums Helsinki und schaute Leo Kara fragend an.
»Sie haben hier Rezepte für ein Epilepsiemedikament, das in England unter dem Namen Epilim verkauft wird, für Tranquilizer, die als Dialar im Handel sind, und für ein Schlafmittel namens Temazepam.Und Sie möchten diese Rezepte jetzt hier in Finnland neu ausstellen lassen.«
»In der Apotheke war man nicht bereit, mir die Medikamente mit diesen Papieren zu verkaufen«, sagte Kara und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er hatte sich eingebildet, die neuen Rezepte im Handumdrehen zu bekommen. Nun bereute er es, dass er für die Reise keinen größeren Vorrat an Medikamenten mitgenommen hatte.
»Was für eine Diagnose haben Sie?«, fragte die Ärztin.
Kara spürte, wie seine Aggressionskurve anstieg. »Ich habe 1989 in England eine Kopfverletzung erlitten.«
Die Ärztin runzelte die Stirn. »Und als Folge davon sind Sie an Epilepsie erkrankt?«
»Wieso denn Epilepsie, verdammt!«, entfuhr es Kara. Die Ärztin schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen entgeistert an.
»Entschuldigung.« Kara beeilte sich, seinen Ausrutscher wiedergutzumachen. »Ich leide unter einer Frontalpsyche, einer Veränderung der Persönlichkeit durch die Frontallappenverletzung. Ohne Medikamente bin ich nicht immer imstande, mein Verhalten und meine Worte zu kontrollieren, wie du gerade bemerkt hast. Und insbesondere nicht meine Aggressivität. Schlafmittel nehme ich wegen meiner Alpträume.« Er kam sich vor wie ein Sonderling und hätte sich am liebsten auf der Stelle verkrümelt.
»Aha, jetzt verstehe ich, das Natriumvalproat … also das Epilepsiemedikament ist zur Behandlung der Frontalpsyche verschrieben worden. Aber diese Dosierungen sind enorm hoch, wollen Sie tatsächlich eine solche Menge Dialar und Temazepam? Sie haben nicht zufällig ein ärztliches Attest bei sich?«
»Ich verliere wirklich sehr schnell die Beherrschung«, sagte Kara mit derart angespannter Stimme, dass die Ärztin auf ihrem Stuhl erstarrte. Plötzlich hatte er eine Idee. »Sie könnten ja meinen Arzt in Wien anrufen. Er antwortet sicher sehr gern auf Ihre Fragen.«
Die beiden Ärzte sprachen dieselbe Sprache, sowohl englisch als auch medizinisch, so dass Kara innerhalb weniger Minuten drei Rezepte in die Hand gedrückt bekam und die Quittung für die Gebühr, die er an das Ärztezentrum Helsinki gezahlt hatte.
Die Universitätsapotheke fand sich hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Mannerheimintie. Kara konnte direkt an den Bedienungstresen gehen, gab seine Rezepte ab und bemerkte, wie die Pharmazeutin die Brauen einen Deut hochzog. Wunderte sie sich über die Dosierungen oder über sein abgekämpftes und ramponiertes Aussehen? Oder bildete er sich das nur ein? Kara fühlte sich anormaler denn je, am liebsten hätte er losgebrüllt, dass er nicht freiwillig in diese beschissene Lage geraten war.
»Haben Sie eine finnische Krankenversichertenkarte?«, fragte die Pharmazeutin. Kara schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie bitte einen Augenblick warten würden«, sagte sie. Kara setzte sich auf die Bank am Fenster neben einen nach Schnaps stinkenden Mann und einen Opa mit Gipsbein und dachte über seine Ermittlungen nach, was sonst. Am Vormittag hatte er den Bericht an Birou ausgearbeitet, und als Nächstes würde er eine Zusammenfassung für sich selbst schreiben. Ohne ordentliche Notizen hätte er die Einzelheiten der Ereignisse, Gespräche, Verhöre und Enthüllungen der letzten Woche bald vergessen.
Plötzlich kam ein in Leder gekleidetes junges Paar hereingeschneit. Die Pupillen der beiden waren nur noch winzig kleine Punkte, das Pärchen schien völlig unter dem
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